Der Skorpion
nirgends stieß sie auf eine gerahmte Fotografie, weder auf dem Kaminsims noch an den Wänden oder im Bücherschrank oder an der Wand. Nicht ein einziger Schnappschuss. Es war, als hätte er sämtliche Bilder aus seinem Leben verbannt.
»Wie sonderbar«, sagte sie leise und fragte sich, ob sie sich täuschte. Vielleicht war diese Hütte in den Bergen nur sein Rückzugsort, sein zweites Zuhause.
Sein Schlupfwinkel,
stichelte eine innere Stimme, als wollte sie andeuten, dass er der Serienmörder war, von dem sie gehört hatte. Vom Verstand her hatte sie den Verdacht weitgehend ausgeräumt, aber auf irrationaler Ebene, einfach ihrem Bauchgefühl folgend, ermahnte sie sich, Vorsicht walten zu lassen und sich stets vor Augen zu halten, dass sie nichts von ihrem Retter wusste außer dem, was er selbst erzählt hatte.
Und das war womöglich ein Haufen Lügen.
Es kostete sie einige Mühe, doch es gelang ihr, das Feuer zu versorgen und ein paar Tannenscheite nachzulegen, ohne dass ihre Rippen allzu sehr schmerzten. Als die Flammen aufzüngelten und hungrig prasselten, stellte sie den Schirm wieder auf. Auf ihre Krücke gestützt, humpelte sie am Tisch vorbei zur anderen Zimmerseite. Sie hatte das Bücherregal gerade erreicht und wollte sich die Titel ansehen, als sie es spürte – dieses Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Sie hielt mitten in der Bewegung inne, drehte sich um und ließ den Blick durch das leere Zimmer schweifen. Da war niemand, und der Hund hatte sich an der Tür zusammengerollt und wartete geduldig mit geschlossenen Augen.
Niemand beobachtet dich.
Sie blickte zur Decke empor und suchte lächerlicherweise nach einer versteckten Kamera.
»Du leidest unter Verfolgungswahn«, sagte sie zu sich selbst, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug. Sie hinkte zu den Fenstern. Die Nacht zog herauf, die zerklüfteten Berge lagen im Zwielicht, und sie musste blinzeln, um etwas erkennen zu können.
Es schneite, aber mäßig, und sie glaubte schon, dass es bald aufklarte. In ihrem Kopf hatte der Vorsatz, in die zivilisierte Welt zurückzukehren, oberste Priorität. Zuerst musste sie ein Krankenhaus aufsuchen, dann ihre Mutter und ihre Nachbarin Emily wegen der Katze anrufen. Wegen des Autos musste sie mit der Versicherung verhandeln, sie musste ihren Anrufbeantworter abhören, um zu erfahren, ob jemand Arbeit für sie hatte, und … und … Sie verkrampfte sich innerlich bei dem Gedanken, dass sie immer noch Aaron aufspüren musste, falls er tatsächlich am Leben sein sollte.
Und wenn nicht? Wenn du ins Blaue hinein suchst? Wenn dich jemand hierhergelockt hat, um auf deinen Wagen zu schießen und den Unfall herbeizuführen? Wenn Zane MacGregor bei dem »Unfall« die Hände im Spiel hat? Wenn alles, was passiert ist, im Voraus geplant war?
»Ach, hör auf!«, wies sie sich so laut zurecht, dass Harley den Kopf hob und ein erschrockenes »Wuff« ausstieß. Sie kam sich blöd vor. »Entschuldige«, sagte sie, wurde das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, aber immer noch nicht los. Aus dem dämmerigen Zwielicht schien ein bösartiges Augenpaar sie voller Hass anzusehen.
Sie rückte vom Fenster ab. Die Person, die auf ihren Wagen geschossen hatte, hatte ein leistungsstarkes Gewehr benutzt, und trotz des tief heruntergezogenen Dachs war Jillian vom sanften, warmen Schimmer des Feuers und dem Licht der Laternen von hinten beleuchtet und deshalb gut zu sehen. Wer ein Auto von der Straße zwang, würde auch nicht zögern, ein Fenster zu zerschießen.
Und dann war da noch MacGregor.
Mit seinem Gewehr.
Sie leckte sich über die Lippen und trat aus dem Lichtschein, um sich wenigstens zum Teil im Dunkeln zu verbergen.
Wer bist du? Und was willst du von mir?
Ihre Finger umklammerten die Krücke, als sie daran dachte, was sie überhaupt in diese Gegend geführt hatte.
Ihr erster Mann.
Der angeblich tot war.
Aus der Tiefe der Hütte spähte sie böse aus dem Fenster und versuchte, die Quelle ihrer Angst ausfindig zu machen.
Okay, du mieser Kerl, in welchem Zusammenhang stehst du mit Aaron?
Pescoli steckte bis über beide Ohren in Akten. Laborberichte, Anmerkungen zu den Verwandten und Freunden der Opfer und Handyabrechnungen. Sie hatte den Hintergrund jedes einzelnen Opfers studiert, bis sie es genauso gut kannte, wie es seine Geschwister gekannt hatten. Sämtliche Opfer wiesen, wie sich herausstellte, Spuren von Valium im Blut auf, und Pescoli dachte sich, dass ihr Mörder sie mit Drogen,
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