Der Skorpion
Handschellen legen und auf den Rücksitz ihres Wagens stoßen, sich alle möglichen Beschimpfungen anhören und sie dem Täter mit gleicher Münze heimzahlen konnte, doch wenn es um ihre Kinder ging, verflixt, dann war sie butterweich. Ein dummes, nachgiebiges Schaf, bereit, für sie zu sterben, und das ärgerte sie. Sie wog das Telefon noch eine Sekunde in der Hand, überlegte, ihren Sohn noch einmal anzurufen und mit kühlem Kopf von vorn zu beginnen. Doch stattdessen biss sie die Zähne zusammen, erinnerte sich, dass sie in solchen Fällen ihren Freundinnen mit deren rebellischen Teenagern geraten hätte aufzulegen.
»Tut mir leid, Jer«, sagte sie, drehte ihren Stuhl um und sah sich Mandy Itos Foto gegenüber. »Was ist dir nur zugestoßen?«, fragte sie das gespenstische Bild. »Wer hat das getan?«
Wer auf ihren Reifen geschossen hatte, musste unheimlich zielsicher sein, ein Mann, der sich verstecken und warten konnte, ein Scharfschützengewehr im Anschlag, um dann zum richtigen Zeitpunkt zu feuern und genau zu treffen. Sie war lange Listen von Ex-Scharfschützen beim Militär, von Mitgliedern des ortsansässigen Schützenvereins und Jagdclubs durchgegangen. Bislang hatte sie noch kein Mitglied mit augenfälligen Verbindungen zu einem der drei Opfer entdeckt.
»Wer bist du?«, flüsterte sie und sehnte sich nach einer Zigarette. Stattdessen begnügte sie sich mit einem Streifen Nikotinkaugummi und sagte sich, dass sie wieder aufhören oder es zumindest reduzieren müsste. Mittlerweile war sie wieder bei einer halben Schachtel pro Tag angekommen, und das konnte schnell eskalieren, wenn sie die Sucht nicht im Keim erstickte.
Wieder klingelte ihr Handy, und sie warf einen Blick auf die Nummer des Anrufers. Ihr Herz stolperte albernerweise, und sie dachte an das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, auf einem Bett in einem Motelzimmer. »Pescoli«, meldete sie sich mit weicher Stimme.
»Fleißig?« Seine Stimme klang rauh und heiser und ließ sie unvermittelt an Sex denken. Lächerlich.
»Was denkst du denn?«
»Ich finde, wenn Regan nur arbeitet und nie ans Vergnügen denkt, ist sie …«
»Langweilig?«
»Zickig, wollte ich sagen.«
»Zickig? Nein, wie süß«, antwortete sie spöttisch. »Und ich liebe dich auch.«
»Ich weiß«, sagte er, obwohl sie es als Scherz gemeint hatte.
»Bilde dir bloß nichts ein.«
»Ich dachte, wir könnten uns vielleicht treffen.«
»Wenn du so nett zu mir bist, wie kann ich da widerstehen?«
»Okay, ich nehme es zurück. Du bist nie zickig.«
»Lügner«, sagte sie, lächelte jedoch dabei. Er hatte diese Begabung, ihr tief unter die Haut zu gehen. Es war so ärgerlich. Denn er war nicht der Richtige für sie. Das wusste sie, und das wusste er; er hatte es sogar schon ausgesprochen. Doch dass die Chemie zwischen ihnen stimmte, ließ sich nicht leugnen. Sie brachten einander zum Lachen, hatten Spaß zusammen und waren gut im Bett. Neben ihm verblassten sogar Luckys Fähigkeiten als Lover, und so ungern Pescoli es zugab, war Lucky doch ziemlich gut gewesen.
Doch jetzt war er der Zweitbeste. Nach Nate. Dem Frischluftfanatiker.
»Also, treffen wir uns.«
»Ich bin ziemlich ausgelastet.«
»Ich meine doch nur auf einen Drink nach der Arbeit.«
»Nur einen Drink?«, fragte sie und wusste es besser.
»Na ja, … wir werden sehen.«
Sie ließ sich nicht so leicht übertölpeln, spürte aber doch eine prickelnde Vorfreude. »Es geht nie bloß um einen Drink, oder?«
Sie stellte sich sein träges schiefes Lächeln vor, das Weiß seiner Zähne im Kontrast zu der gebräunten Haut. »Nein, Regan, da hast du recht. Mit dir geht es nie bloß um einen Drink.« Sein Lachen war tief und wissend. »Ruf mich an, wenn du Feierabend machst.«
Sie erwog, eine flapsige Bemerkung über seinen Abschiedsspruch fallen zu lassen, unterließ es jedoch. Kein Grund, grob zu werden, selbst wenn ihre Erwiderung klug gewesen wäre. Er legte auf, und Pescoli versuchte, sich einzureden, sie wäre nicht interessiert, er wäre nicht gut für sie, sie würde ihn nicht anrufen und ihn nicht in einer ihrer Lieblingsbars treffen … Doch sie wusste, dass sie sich selbst belog.
Sie würde ihn treffen. Sie konnte nicht anders. Es war wie eine Sucht. Eine Sucht, die sie so bald nicht aufgeben würde.
Das Weibsstück gab einfach keine Ruhe.
Nicht mal nach fast einer Stunde.
In der Zwischenzeit war das Wetter wieder umgeschlagen, nach stellenweise klarem Himmel ballten sich jetzt wieder
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