Der Sohn der Halblinge: Roman (German Edition)
Harz.
Arvan saß Tag für Tag stundenlang auf einem der Riesenbäume, die den Baumschafen vorbehalten waren, denn auf ihren Wohnbäumen wollten die Halblinge aus dem Stamm von Brado dem Flüchter sie nicht haben, weil sie überall ihre Ausscheidungen hinterließen. Diese veränderten über längere Zeit das Harz der Riesenbäume, aus denen die Halblinge seit langer Zeit den Baumsaft gewannen, eine magische Essenz, deren Rezeptur ein Geheimnis ihres Volkes war.
Die Bäume der Baumschafherden befanden sich deshalb in sicherer Entfernung zu den Wohnbäumen der Halblinge.
Arvan saß zumeist einfach nur da, hing seinen Gedanken nach und träumte davon, eines Tages in die große weite Welt zu ziehen und all die Dinge zu sehen, die er bisher nur aus Erzählungen kannte. Die Wunder von Carabor, der größten Stadt der Welt mit ihren zehntausend Schiffen zum Beispiel. Oder Aladar, die Hauptstadt des mächtigen Königreichs Beiderland, in der es angeblich riesige Gebäude mit goldenen Kuppeln gab, deren Pracht und Glanz die Augen blendeten. Oder die Gestade des Fernen Elbenreichs, einem Land voller Magie, aber auch Weisheit, das so abgeschieden lag, das s ka um ein Halbling oder Mensch jemals dorthin gelangt war.
Eines Tages, dachte Arvan, werde ich das alles mit eigenen Augen sehen.
Letztendlich war er sich jedoch nicht sicher, ob es nicht besser war, einfach etwas mehr vom magischen Baumsaft der Halblinge zu nehmen, auf einem Herdenbaum zu sitzen und von diesen Dingen nur zu träumen. Das war bestimmt ungefährlicher, als solche Reisen selbst zu unternehmen– vor allem, wenn man so ungeschickt war wie Arvan.
Manchmal, wenn sein Kopf vom vielen Nachdenken ganz leer war, vertrieb er sich die Zeit damit, Rankpflanzen sich mehr oder weniger kunstvoll zusammenknoten zu lassen. Auch diese gehorchten seinen Gedanken, wenn er sich auf sie einstellte. Die Gefahr dabei war nur, dass er dann mitunter nicht genug auf die Baumschafe achtete.
Aber im letzten Moment hatte er ein paar Ausbrecher noch immer durch einen beherzten Gedanken daran hindern können, sich zu weit von der Herde zu entfernen.
Eine auseinandergesprengte Herde von mehr als tausend Baumschafen wieder einzusammeln war eine Geduldsprobe. Arvan hatte das schon erlebt– wenn er morgens zu spät aufgestanden war und die Baumschafe, die die Nacht über in den höheren Bereichen des jeweiligen Herdenbaums schliefen, schon vor Eintreffen des Hirten erwacht waren. Halblinghirten lösten das Problem dann meistens dadurch, dass sie in einer für Menschen schier unglaublichen Geschwindigkeit den Tieren hinterherkletterten, um sie dann wieder zusammenzutreiben. Die Baumschafe gehorchten zwar jedem intensiveren Gedanken, aber die meisten Hirten mussten dafür näher als zwanzig Schritte an die Tiere heran, und viele waren außerdem darauf angewiesen, ihre Befehle gleichzeitig auch zu rufen, da sie sonst nicht stark genug waren. Abgesehen davon gab es hin und wieder auch sehr störrische Baumschafe. Gedanken-Taublinge wurden sie genannt, und jeder Baumschafzüchter schlachtete sie als Erste.
In den Herden, die Arvan hütete, schien es allerdings nicht einen einzigen Gedanken-Taubling zu geben. Die zotteligen Geschöpfe hörten selbst dann noch auf ihn, wenn er auf der Hauptastgabel blieb, während sich einige von ihnen bis in die Baumkrone verzogen.
Allerdings war das auch Arvans Glück. Denn schnell genug hinter ihnen herzuklettern wäre ihm unmöglich gewesen.
Arvan war darauf konzentriert gewesen, einen kunstvollen Knoten aus drei Rankpflanzen zu binden, die von einem der höheren Äste herabbaumelten. Er hatte schon durch seine geduldige Beeinflussung bewirkt, dass sie überhaupt in dieser widernatürlichen Gleichmäßigkeit von dem Ast hingen.
Da hatte er bemerkt, dass eines der Baumschafe, die sich vorhin bereits gefährlich weit in das äußere Geäst gewagt hatten, einen erneuten Versuch in diese Richtung unternahm.
Komm zurück, du dumme Moosfussel!, sandte er einen weiteren Gedankenbefehl, und normalerweise hätte das Baumschaf auf diesen sehr energischen Gedanken sofort reagiert.
Aber genau in diesem Augenblick zischte etwas durch die Luft, und ein Pfeil bohrte sich durch das Baumschaf. Es stieß einen durchdringenden Schrei aus, der fast an die Stimme eines Halblingkinds erinnerte, und fiel in die Tiefe, wo es auf dem weichen Waldboden dumpf aufschlug.
Ein wahrer Hagel aus Pfeilen folgte. Die Schützen mussten aus dem Unterholz am Boden herausschießen.
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