Der Sohn des Azteken
Als kleines Mädchen hast du auch nur aus Ellbogen und Knien bestanden. Du warst und bist eine Freude für die Augen und für das Herz. Bald bist du wieder schön und stark. Du brauchst nur die richtige Ernährung und genug Ruhe.«
Sie fragte angstvoll: »Sind mein Vater und deine Mutter mit dir gekommen? Warum seid ihr alle so lange weg gewesen?«
»Es tut mir leid, daß ich es dir sagen muß, Améyatl. Sie sind nicht bei mir. Sie werden nie mehr bei uns sein.« Vor Schmerz stöhnte sie leise auf.
»Es tut mir auch leid, dir sagen zu müssen, daß dies das Werk deines Bruders war. Er hat beide hinterhältig ermordet und später auch deinen Mann Káuri, lange bevor er dich einsperrte und als Regentin von Aztlan absetzte.« Sie dachte eine Weile stumm darüber nach, weinte ein wenig und flüsterte schließlich: »Er hat solche schrecklichen Untaten begangen … nur wegen eines unbedeutenden Rangs … in einem unwichtigen kleinen Winkel der EINEN WELT. Armer Yeyac.«
»Armer Yeyac?«
»Du und ich, wir wußten beide seit unserer Kindheit, daß Yeyac mit einem ungünstigen Tonáli geboren worden war. Darunter hat er sein Leben lang gelitten und war deshalb unglücklich und unzufrieden.«
»Du bist weit nachsichtiger und versöhnlicher als ich, Améyatl. Ich bedaure es nicht, wenn ich dir sage, daß Yeyac nicht länger leidet. Er ist tot, und ich trage für seinen Tod die Verantwortung. Ich hoffe, du wirst mich deshalb nicht hassen.«
»Nein … natürlich nicht.« Sie griff nach meiner Hand und drückte sie liebevoll. »Die Götter, die ihn mit diesem Tonáli geschlagen hatten, müssen das vorherbestimmt haben. Aber jetzt …«, sie nahm sich sichtlich zusammen und fragte beklommen: »Hast du mir alle schlechten Neuigkeiten berichtet?«
»Das mußt du selbst beurteilen. Ich bin dabei, Aztlan von allen Helfershelfern und Vertrauten Yeyacs zusäubern.«
»Verbannst du sie?«
»Weit, sehr weit weg. Nach Mictlan, wie ich hoffe.«
»Oh, ich verstehe.«
»Jedenfalls alle bis auf diese Frau, G’nda Ké, deine Gefängniswärterin .«
»Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll«, sagte Améyatl, und es klang verwirrt. »Ich kann sie eigentlich nicht hassen. Sie mußte Yeyacs Befehl gehorchen. Manchmal ist es ihr gelungen, mir etwas Essen zu bringen, das besser schmeckte als Atóli, oder ein feuchtes, parfümiertes Tuch, mit dem ich mich ein wenig waschen konnte. Aber irgend etwas … ihr Name …«
»Jetzt, da unser Urgroßvater tot ist, sind wir beide, du und ich, möglicherweise die einzigen, für die sich mit diesem Namen etwas verbindet, wenn auch nur unbestimmt. Canaútli hat uns von dieser Yaki-Frau aus alter Zeit erzählt. Erinnerst du dich? Wir waren damals noch Kinder.«
»Ja!« sagte Améyatl. »Die böse Frau … sie hat die Azteca gespalten und den halben Stamm davongeführt. Später wurden aus den Abtrünnigen die großen Eroberer, die Mexica. Aber Tenamáxtli, das war am Anfang der Zeiten. Es kann nicht dieselbe G’nda Ké sein.«
»Wenn sie es nicht ist«, knurrte ich, »dann hat sie mit Sicherheit alle niederen Instinkte und Beweggründe ihrer gleichnamigen Vorgängerin geerbt.«
»Ich frage mich«, sagte Améyatl, »ob Yeyac das bewußt war? Er hat Canaútlis Geschichte zusammen mit uns angehört.«
»Das werden wir nie erfahren. Ich habe mich noch nicht erkundigt, ob es einen neuen Geschichtserinnerer gibt – oder ob Canaútli diese Geschichte an seinen Nachfolger weitergegeben hat. Ich glaube es nicht. Der neue Geschichtserinnerer hätte die Bewohner von Aztlan bestimmt zu einem Aufstand ermutigt, nachdem diese Frau an Yeyacs Hof gekommen war. Besonders als sie Yeyac dazu verleitete, den Spaniern seine Freundschaft anzutragen.«
»Das hat Yeyac getan?« rief Améyatl erschrocken. »Aber … dann … warum schonst du diese Frau?«
»Ich brauche sie. Ich werde dir erklären weshalb, aber das ist eine lange Geschichte. Da kommt Pakápeti. Sie war meine treue Begleiterin auf dem langen Weg hierher und ist jetzt deine Zofe.«
Zehenspitze brachte einen Teller mit Früchten und anderen leicht bekömmlichen Sachen für Améyatls Frühstück. Die beiden jungen Frauen begrüßten sich freundlich, doch Zehenspitze begriff, daß meine Cousine und ich ein ernstes Gespräch führten, und ließ uns allein. »Zehenspitze ist mehr als deine persönliche Dienerin«, sagte ich. »Sie ist Haushofmeisterin des ganzen Palastes. Außerdem ist sie die Köchin, die Wäscherin, die Haushälterin, einfach
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