Der Sohn des Azteken
hierher nach Aztlan schickt. Ich habe vor, sie in mein Heer einzugliedern.«
»Auch dem stimmen wir zu«, sagte Teciuapil, der Häuptling von Tecuéxe. »Aber darf ich fragen weshalb?«
»Bevor ich darauf antworte«, sagte ich, »will ich selbst eine Frage stellen. Wer von euch ist jetzt der Geschichtserinnerer?«
Sie wirkten alle leicht verlegen, und es entstand ein kurzes Schweigen. Dann sagte ein Mann, der sich bisher nicht zu Wort gemeldet hatte – er war ebenfalls älter, nach seiner Kleidung zu urteilen ein wohlhabender Kaufmann, und man hatte ihn während meiner Abwesenheit in den Rat aufgenommen: »Als Canaútli, der frühere Erinnerer, starb – man hat mir gesagt, Tenamáxtzin, daß er Euer Urgroßvater war –, wurde niemand ernannt, um seinen Platz einzunehmen. Yeyac erklärte, ein Geschichtserinnerer werde nicht mehr gebraucht, denn mit der Ankunft der Weißen habe die Geschichte der EINEN WELT ihr Ende gefunden. Außerdem würden wir die Jahre nicht mehr im Maß von zweiundfünfzig zählen oder die Neufeuer-Zeremonie feiern, die den Beginn einer neuen Periode bezeichnete. Wir würden, so sagte er, unsere Jahre wie die Weißen in einer ununterbrochenen Folge zählen, die mit einem Jahr begann, das einfach ›eins‹ hieß, aber wann das war, wissen wir nicht.«
»Yeyac hatte unrecht«, erwiderte ich. »Es gibt immer noch genug Geschichte, und ich habe die Absicht, selbst Geschichte zu machen, die unsere Erinnerer aufzeichnen und im Gedächtnis bewahren können. Deshalb, und das ist die Antwort auf eure frühere Frage, will ich eure Krieger in meinem Heer haben.«
Ich berichtete ihnen, so wie ich Améyatl berichtet hatte und davor Pakápeti, G’nda Ké, Citláli und Pochotl, der für mich den Donnerstock angefertigt hatte, von meinem Plan, einen Aufstand gegen die Spanier zu entfachen und die gesamte EINE WELT für uns zurückzugewinnen. Die Räte wirkten wie alle anderen, die mir zuvor zugehört hatten, beeindruckt, aber ungläubig.
Einer meldete sich zu Wort. »Aber, Tenamáxtzin, wenn selbst die mächtigen …«
Ich unterbrach ihn: »Der erste von euch, der mir sagt, daß ich nicht gewinnen kann, weil ›selbst die mächtigen Mexica sich geschlagen geben mußten‹, und er mag alt, weise und würdig, ja sogar hinfällig sein …. dieser Mann wird den ersten Angriff gegen die Spanier führen. Er wird an der Spitze meiner Streitmacht marschieren, und zwar unbewaffnet und ohne Rüstung. Darauf küsse ich die Erde.«
Im Raum herrschte Totenstille.
»Dann ist der Rat also bereit, meinen geplanten Feldzug zu unterstützen?« Mehrere Räte seufzten, doch alle nickten zustimmend. »Gut«, sagte ich. Ich wandte mich an den Kaufmann, der gesagt hatte, es gebe im Rat keinen Geschichtserinnerer mehr. »Canaútli hat bestimmt viele Bücher mit Wortbildern hinterlassen, die von den Ereignissen in all den Jahren bis zu seiner Zeit berichten. Studiere sie und lerne sie auswendig. Ich befehle dir auch, ein neues Buch zu beginnen. Es soll mit den Worten anfangen: ›An diesem Tag Neun Blume im Mond Fegen der Straße, im Jahr Sieben Haus erklärte der Uey-Tecútli Tenamáxtzin von Aztlan die Unabhängigkeit der EINEN WELT von Spanien und begann mit den Vorbereitungen für einen Aufstand gegen die unerwünschten Herren von Neuspanien und Neugalicien. Sein Plan fand die Zustimmung und Billigung des versammelten Rates. ‹«
Der Mann sagte: »Jedes Eurer Worte, Tenamáxtzin, wird in dem Buch zu finden sein.«
Damit war die Sitzung beendet, und die Räte gingen alle davon. Nochéztli war zurückgeblieben und sagte: »Verzeiht, Herr, aber was soll mit den Kriegern geschehen, die im Tempel der Göttin eingesperrt sind? Es ist dort so wenig Platz, daß sie sich beim Sitzen abwechseln müssen und sich nicht hinlegen können. Außerdem werden sie allmählich sehr hungrig und durstig.«
»Sie verdienen Schlimmeres als ein bißchen Unbequemlichkeit«, sagte ich. »Beauftrage die Wachen, ihnen etwas zu essen zu geben, aber nichts außer Atóli und Wasser, und von beidem nur sehr wenig. Sie sollen nach der Schlacht hungern und nach Blut dürsten, wenn ich soweit bin, daß ich sie einsetzen werde. Aber, Nochéztli, hast du nicht gesagt, daß du mit Yeyac in Compostela warst?«
»Jawohl, Tenamáxtzin.«
»Dann möchte ich, daß du noch einmal dorthin gehst, diesmal als mein Quimichi.« Dieses Wort bedeutet eigentlich Maus, doch wir benutzen es auch im Sinne des spanischen Espión. »Kann ich mich darauf verlassen, daß
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