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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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behalten, außer auf dem Schlachtfeld. Dann beziehst du einen Platz in sicherer Entfernung. Deshalb wirst du vieles nur von weitem sehen. Du mußt versuchen, dir selbst zu erklären, was du siehst, und dich bemühen, es in klaren und verständlichen Worten festzuhalten. Du wirst selten lange Ruhepausen haben, in denen du dich mit Feder und Papier hinsetzen kannst. Vielleicht findest du nicht einmal immer einen Platz, um dich zu setzen. Du mußt dir also etwas einfallen lassen, um dir am Ort des Geschehens oder unterwegs schnell Notizen machen zu können, die du später ausarbeiten wirst, wenn wir wie jetzt eine Zeitlang irgendwo lagern.«
    »Das kann ich, Herr. Tatsächlich ist es so, daß …«
    »Laß mich ausreden, Mädchen. Ich wollte gerade empfehlen, daß du dazu ein Verfahren benutzt, das bei den reisenden Händlern seit langem beliebt ist, um geschäftliche Unterlagen zu führen. Du nimmst die Blätter von wildem Wein und …«
    »Und ich ritze mit einem spitzen Zweig alles ein. Die Markierungen sind so dauerhaft wie Tinte auf Papier. Verzeiht, Herr. Das wußte ich schon. Ich habe es sogar gerade eben beim Zuhören ein paarmal gemacht.« Du hast die Hände vom Rücken genommen, in denen du Weinblätter und einen Zweig hieltest. Auf den Blättern befanden sich winzige Kratzer, die du gemacht hattest, ohne dabei auch nur hinzusehen.
    Ich war nicht wenig überrascht und fragte: »Du kannst mit diesen Zeichen etwas anfangen? Du kannst manche meiner Worte wiederholen?«
    »Die Zeichen, Herr, sind nur Gedächtnisstützen. Niemand außer mir könnte sie verstehen. Und ich behaupte nicht, jedes Eurer Worte aufgezeichnet zu haben, aber …«
    »Beweise es, Mädchen. Lies mir etwas von diesem Gespräch vor.« Ich wies auf ein Weinblatt. »Was ist da gesagt worden?«
    Du hast nur kurz auf das Blatt geblickt, »irgendwann in der Zukunft werden die Geschichtsschreiber der EINEN WELT froh sein, einen …‹«
    »Bei Huitztlil« rief ich. »Das ist höchst erstaunlich! Du besitzt einzigartige Fähigkeiten. Ich habe im Leben nur einen einzigen anderen Schreiber gekannt, einen spanischen Kirchenmann. Aber er war nicht annähernd so geschickt wie du, und er war kein ganz junger Mann mehr. Sag mir, wie alt bist du, Verónica?«
    »Ich glaube, zehn oder elf, Herr. Ich bin nicht sicher.«
    »Wirklich? Nach deinem beinahe reifen Körper zu urteilen und noch mehr nach der Bildung, die an deiner Sprache erkennbar ist, hätte ich dich für drei oder vier Jahre älter gehalten. Wie kommt es, daß du in so jungen Jahren schon so gebildet und klug bist?«
    »Meine Mutter hatte eine Kirchenschule besucht und ist in einem Kloster aufgewachsen. Sie hat mich von frühster Kindheit an unterrichtet. Kurz vor ihrem Tod hat sie mich in demselben Nonnenkloster untergebracht.«
    »Das erklärt deinen Namen. Aber wenn deine Mutter eine Sklavin war, kann sie keine gewöhnliche Moro-Sklavin gewesen sein.«
    »Sie war eine Mulattin, Herr«, hast du ohne jede Verlegenheit erwidert. »Meine Mutter sprach nicht gerne über ihre Eltern oder über meinen Vater. Aber Kinder ahnen natürlich vieles, was ungesagt bleibt. Ich vermute, daß ihre Mutter eine Schwarze gewesen sein muß, aber ihr Vater ein wohlhabender Spanier von hohem Stand, denn er bezahlte die Schulbildung seiner Mischlingstochter. In Hinblick auf meinen Vater war sie jedoch so verschwiegen, daß ich nicht einmal eine Vermutung anstellen konnte.«
    »Ich habe nur dein Gesicht gesehen«, sagte ich. »Laß mich das übrige sehen. Entkleide dich für mich, Verónica.«
    Das dauerte nur einen Augenblick, denn du hast ein dünnes, beinahe fadenscheiniges Gewand getragen, das nach spanischer Art bis zu den Füßen reichte. Ich sagte: »Man hat mir einmal die Abstufungen und Grade gemischter Herkunft beschrieben. Aber ich habe keine Erfahrung darin, sie selbst zu erkennen, wenn man davon absieht, daß ich auch einmal ein Mädchen kannte, das, wie ich glaube, das Kind einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters war. Bei dir, Verónica, würde ich sagen, daß sich das Moro-Blut deiner Großmutter nur in deinen bereits entwickelten Brüsten und dem vorhandenen Ymáxtli-Flaum zeigt. Ich nehme an, deine zarten Gliedmaßen und dein hübsches Gesicht sind auf das Blut deines spanischen Großvaters zurückzuführen. Doch du hast keine behaarten Achselhöhlen oder Beine, also muß sein Blut später verdünnt worden sein. Außerdem bist du so sauber und duftest so gut wie eine Frau meiner eigenen Rasse.

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