Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
NACHDEM SIE aufgebrochen waren, blies der Südwind einen kalten Regen über das Land, der durch ihre Wollmäntel drang und sie bis auf die Haut durchnässte. Sie kamen quälend langsam voran, weil sie den schweren Wagen mit Kluwe und seinem Winterzelt mitführten und die vorgespannten Rösser auf dem matschigen Untergrund kaum Tritt fassen konnten.
»Es friert nicht mehr, und dennoch ist mir kälter als gestern«, klagte Wela, die nun neben Awin ritt.
»Wie kommt es eigentlich, dass du jetzt an meiner Seite und damit in der Nähe von Harmins Enkeln reitest?«, fragte Awin, der ebenso fror wie Wela, das aber nicht zugeben wollte.
»Wenn es dich stört, kann ich mich auch zu meinem Onkel Tuge gesellen«, gab Wela spitz zurück.
»So war das nicht gemeint«, erwiderte Awin.
Wela seufzte, dann erklärte sie: »Ich glaube, ich habe das der Beratung gestern Abend zu verdanken.«
»Als du sagtest, dass deine Stimme im Rat gehört werden müsse?«
»Genau. Onkel Tuge hat mir klargemacht, dass es mir, als der Schmiedin des Klans, jetzt nicht mehr gut ansteht, noch mit den unreifen Jungkriegern zu reiten. Das ist bedauerlich, denn dort geht es wesentlich lustiger zu als hier. Die Yamanoi sind alle so ernst, als könnten sie allein mit ihren grimmigen Mienen Slahan besiegen.«
Awin grinste dünn. Er fragte sich, ob Tuge Hintergedanken
hatte. War er vielleicht mit Harmin einig geworden, Wela zu verkuppeln? Es waren schon früher gelegentlich Bewerber aufgetaucht, die Tuwin, den berühmten Schmied, um die Hand seiner Tochter gebeten hatten. Wela hatte sie alle abgewiesen. Awin warf einen Blick zurück. Limdin und Dare ritten hinter ihrem Großvater und ließen im Dauerregen die Köpfe hängen. Sie sahen immer noch nicht aus, als wandelten sie auf Freiersfüßen.
»Was wirst du jetzt tun?«, unterbrach Wela seinen Gedankengang. Und als sie merkte, dass er nicht wusste, worauf sie hinauswollte, ergänzte sie: »Horket, er hat deinen Klan ausgelöscht und deinen Vater getötet.«
Awin nagte an seinen Lippen. Als wenn er nicht schon genug andere Sorgen hätte. Die Sache schien der Schmiedin wichtig zu sein. Natürlich, Horket trug auch Mitschuld am Tod ihres eigenen Vaters.
»Wirst du ihn fordern, Awin, Kawets Sohn?«, fragte Wela, als er nicht antwortete.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du etwas leiser sprechen würdest. Es muss ja nicht jeder wissen, wer ich bin.«
»Aber es weiß doch schon jeder. Mabak hat den Jungkriegern deine Abstammung verraten. Yaman Werek hat mich gestern gefragt, ob es stimmt, dass du der Sohn Kawets bist.«
Awin schloss die Augen. Das wurde ja immer besser. »Was hast du geantwortet?«
»Ich habe ihm geraten, dich selbst zu fragen.«
»Wir hätten Mabak wirklich am Sichelsee lassen sollen«, meinte Awin düster, »besser noch im Sichelsee.«
»Und? Wirst du Horket nun fordern? Ich habe gehört, dass der Klan der Dornen dort seine Heimat hatte, wo Horket sich jetzt als Herr aller Hakul aufspielt.«
Awin warf Wela einen wütenden Blick zu. »Es ist die Stammesversammlung. Alle Fehden ruhen in dieser Zeit.«
»Das habe ich gehört«, erwiderte Wela.
»Warum fragst du mich dann?«, rief Awin ungehalten. Was erwartete sie eigentlich von ihm? Dass er mit gezogenem Sichelschwert ins Ahnental ritt und Horket, den Sieger vieler Schlachten und Zweikämpfe, an die Kehle sprang?
Die Schmiedin schenkte ihm einen unergründlichen Blick aus ihren sanftbraunen Augen. »Nun, wenn ich das richtig verstehe, geht diese Versammlung auch irgendwann zu Ende. Dann gilt doch der Fehdefriede nicht mehr, oder?«
Es war unfassbar, sie ließ einfach nicht locker. »Wela, diese Versammlung kann Wochen dauern. Es sind Hakul, du weißt, wie gerne sie sich streiten und wie lange sie brauchen, um sich zu einigen. So viel Zeit haben wir nicht. Ich halte es überhaupt für Unsinn, dass wir in dieses Tal reiten.«
»Warum kommst du dann mit?«
Awin verstummte. Das war eine gute Frage. Er antwortete lahm: »Ich habe das noch gar nicht endgültig entschieden. Außerdem, soll ich Slahan etwa allein nachjagen?«
»Irgendjemand hat einmal gesagt, dass es nicht auf die Zahl der Krieger, sondern auf ihre Entschlossenheit ankommt«, wiederholte Wela lächelnd Worte, die er vor ein paar Tagen zu ihr gesagt hatte. Dann, nach einer längeren Pause, fügte sie ernst hinzu: »Außerdem würde ich dich begleiten.«
Jetzt war Awin wirklich sprachlos. Das war etwas, das er nicht erwartet hatte. Er suchte nach den richtigen Worten,
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