Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
soll sich vorsehen«, sagte er schließlich.
Der Garam stürzte nicht ein, als Merege ihren Stein hinzufügte. Aus einer nahen Ulme stieg ein Habicht in den Himmel auf. Einige Krieger sahen das, und sie raunten einander zu, unsicher, was dieses Zeichen bedeuten mochte. Merege
bemerkte davon nichts. Sie sprach mit geschlossenen Augen ein stummes Gebet. Awin sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Er hätte gerne gewusst, zu wem sie gebetet hatte, und nahm sich vor, sie später, wenn sie ungestört waren, danach zu fragen.
Sie rochen das Ahnental, bevor sie es sahen, denn beißender Rauch zog flach über die Hügel und wehte den Neuankömmlingen entgegen. Dann hörten sie Lärm, fast so, als sei dort ein Kampf im Gange. Er wurde von Geräuschen begleitet, wie sie beim Lagerleben eben entstanden: das Wiehern der Pferde, das Blöken der Hammel und das Hämmern, wenn Zeltpfosten in die Erde getrieben wurden. Sie überquerten einen Hügelkamm zwischen zwei Garamen, auf denen, dicht an dicht, Dutzende Krähen saßen. Dann lag das Tal zu ihren Füßen. Es war eher eine flache Mulde als ein richtiges Tal, weitläufig, von sanft ansteigenden Hügeln begrenzt und von einem schmalen, gewundenen Bach geteilt. Es musste im Sommer einen lieblichen Anblick bieten, wenn die verstreut stehenden Ulmen und die dichten Dornbüsche Grün trugen und sich die Hakul hier sammelten, um die Sonnenwende zu feiern. Doch es war Winter, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, die Ulmen ragten im trüben Licht kahl aus Dunst und Qualm, und die schwarzen Dornbüsche ließen ihre Zweige kraftlos in den allgegenwärtigen Morast hängen.
Was für ein Durcheinander , dachte Awin, der das Gewimmel zunächst nicht überschauen konnte. Zelte waren überall aus dem Boden gewachsen, Kriegszelte zumeist, aber in der Mitte des Lagers drängten sich auch einige große Rundzelte aneinander. Awin entdeckte den heiligen Versammlungsort. Er lag auf der gegenüberliegenden Ostseite des Tals. Viele Hakul drängten sich an einem Kreis, der von vier mächtigen Steinsäulen umstanden war. Eine von ihnen hatte sich deutlich nach innen geneigt. »Das
ist die Schiefe Schwester. So stand sie schon, als ich zum ersten Mal hier war, und so wird sie noch stehen, wenn wir alle längst tot sind«, erklärte Tuge Mabak, der ihn neugierig ausfragte. »Es heißt, wenn sie stürzt, ist das Ende der Hakul gekommen.«
»Hat Etys sie dort hingestellt, Meister Tuge?«
»Aber nein, junger Krieger, wie könnte ein Mensch diese mächtigen Säulen errichten? Die Alten sagen, es war Mareket selbst, der diese Steine einst aufstellte, um dort nach der Jagd seine unsterblichen Rösser anzubinden. Doch sie zerrten an ihren Halftern, und Aiga, sein liebster Schimmel, zog so stark, dass sich eben diese Säule zur Seite neigte. Also ließ Mareket seine Lieblinge frei, denn er erkannte, dass es nicht gut wäre, sie gegen ihre Natur an einem Platz festhalten zu wollen. Wer Glück hat, kann seine Rösser an Frühlingstagen von diesem Tal aus sehen, wie sie am Himmel mit den schnell ziehenden Wolken um die Wette rennen. Diesen Platz aber schenkte Mareket den Hakul, damit sie künftig alle zwölf Jahre zur heiligen Sonnenwendfeier und zur Großen Versammlung, dem Dhanegedh, zusammenkommen. Und schon jetzt kannst du sehen, dass dort unten die Yamane sitzen und beraten.«
Diese »Beratung« war die Quelle des Lärms, den sie schon jenseits des Hügelkamms vernommen hatten. Viele Männer waren dort, aber keiner von ihnen saß. Es hörte sich an, als sei dort unten eine Schlägerei im Gange. Es war nicht ganz das, was Awin erwartet hatte.
Er nagte an seiner Unterlippe. Unterwegs hatte er sich immer wieder gefragt, wie er am besten vorgehen sollte. Er wollte hier keine Zeit verlieren, nur den Heredhan auffordern, ihm, dem Träger des Heolins, in den Kampf gegen Slahan zu folgen. Natürlich hatte er schon unterwegs gewusst, dass es ganz so einfach und schnell nicht gehen würde, aber nun sah er das wuchernde Lager, die vielen Hakul, hörte den Lärm vom Versammlungskreis,
roch die zahlreichen Lagerfeuer und wusste - dies würde Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die seine Schwester und all die anderen Verschleppten nicht hatten.
»Weiter«, rief Uredh.
Ihr Zug bewegte sich langsam hinab in die Senke. Awin hatte mit irgendjemandem gerechnet, der sie in Empfang nehmen und ihnen einen Platz in diesem Durcheinander zuweisen würde, aber das geschah nicht. Einige Männer sahen auf, als sie den Hügel
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