Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
nach einer kurzen Pause, fügte er hinzu: »Ohne dass er uns verbrennt?«
Also das war es. Awin unterdrückte ein Lächeln. Er zog den Stab aus dem Zelt und reckte ihn gen Himmel. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, und der Lichtstein schimmerte goldgelb, aber immer noch schwach, nicht stärker als ein Bernstein, der die Sonne auffing. Das Raunen verstummte.
Schließlich fragte eine Stimme zweifelnd: » Das soll der Lichtstein sein, der Etys fast verbrannte?«
»Ich finde, er sieht aus wie ein Stück Bernstein oder Glas, wie es die Akkesch machen«, rief eine zweite.
Awin räusperte sich und sagte: »Er war lange in der Erde verborgen und hat viel Kraft verloren. Doch nun wird er von Tag zu Tag stärker.«
»Dann komm wieder, wenn er so weit ist«, rief eine Stimme aus dem Hintergrund. Ein paar Männer lachten.
»Glaubt es oder glaubt es nicht, aber dieser Stein hat die
mächtige Slahan in die Flucht geschlagen!«, rief Awin wütend. Er konnte nicht fassen, wie wenig Achtung die Männer dem Heolin entgegenbrachten.
»Wir glauben es nicht«, rief wieder die Stimme aus den hinteren Reihen.
»Wo ist die verzehrende Flamme? Wo die versengende Hitze, junger Seher?«, fragte ein anderer und setzte hinzu: »Du hast ein ehrliches Gesicht, vielleicht glaubst du selbst, was du da sagst, aber ich sage, das ist nur ein gelber Stein, in dem sich die Flammen dieses kleinen Feuers brechen. Hübsch anzusehen, doch sicher keine Waffe.«
»Dann gibt es für euch auch keinen Grund, uns länger anzugaffen, Hakul«, polterte Harmin der Schmied, der hinzugetreten war.
Und daraufhin zerstreute sich die Menge.
»Du warst sehr überzeugend, mein Junge«, spottete Curru, der sich das Schauspiel schweigend angesehen hatte.
»Sie werden es schon noch begreifen«, murmelte Awin schlecht gelaunt.
Nur wenig später stand Awin vor Kluwes Zelt, den Stab in der Hand. Die Wache beäugte ihn und vor allem den Stab misstrauisch. »Wo willst du hin, Lichtträger?«
»Zu Kluwe, dem Größten meiner Zunft«, antwortete Awin höflich.
»Ich hörte, dass du ein Seher sein sollst«, erwiderte der Wächter gedehnt.
»Ich bin ein Seher«, antwortete Awin, obwohl er dachte, dass er eigentlich sagen müsste, er wäre einmal ein Seher gewesen . Seit Wochen schon war er wie blind.
»Er hat nicht nach dir geschickt«, erklärte der Wächter abwehrend.
»Vielleicht fragst du ihn einfach, ob er mich sehen will, Krieger«, drängte Awin.
»Kluwe liebt Störungen nicht, denn jeder Gast wirft Schatten auf das, was er sehen kann.«
Awin blieb hartnäckig: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Lichtstein Schatten wirft. Frag ihn endlich, ob er mich sehen will.«
Plötzlich wurde das Leder vor dem Eingang zur Seite geschlagen. Kluwes Sprecher steckte den Kopf heraus und sagte: »Mein Meister bittet ihn herein.«
Awin trat ein. Kluwe saß auf seinem mit Fellen gepolsterten Stuhl im Dämmerlicht und schien zu schlafen. Das Zelt machte einen beinahe ärmlichen Eindruck. Die inneren Zeltbahnen waren alt und vielfach geflickt, die Muster auf den Vorhängen, die den Schlafbereich abtrennten, verblasst. Das Geschirr, das Awin in der Kochecke entdeckte, war aus Holz oder verbeulter Bronze. Nein, Kluwes großer Ruhm hatte ihm ganz offensichtlich keinen ebenso großen Reichtum eingebracht. »Bist du sicher, junger Krieger, dass er mich sehen will?«, fragte Awin.
Der Krieger lächelte. »Mein Meister muss die Augen nicht öffnen, um zu sehen. Doch wirst du nicht viel Zeit haben, Fragen zu stellen, denn er ist müde. Warte hier.« Er ging zu dem Alten, beugte sich hinunter und sagte ihm etwas ins Ohr. Der Alte nickte zweimal, dann flüsterte er dem Jüngling seine Antwort zu. »Du kannst näher kommen. Doch lass den Stab am Eingang, Sehersohn.«
Awin zögerte einen Augenblick, dann lehnte er den Stab an die Zeltwand. Kluwe wusste also, dass er der Sohn eines Sehers war? Er trat näher heran. Der Alte murmelte wieder etwas in das Ohr seines Gehilfen. Obwohl Awin kaum zwei Schritte entfernt stand, konnte er nicht einmal erahnen, was der Seher
sagte. »Ich kannte deinen Vater«, verkündete der Jungkrieger die Worte seines Meisters.
Awin drängte sich plötzlich eine Frage auf: »Du bist ein großer Seher, Kluwe. Wie kommt es, dass du damals nicht verhindert hast, dass ein Zauberer Horket zum Heredhan machte, dass du meinen Vater in seinem Kampf allein gelassen hast? Die Hakul hätten doch sicher auf dich gehört.«
Der Jüngling beugte sich wieder
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