Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
denn das wäre Verrat.«
Harmin blieb gelassen. »Seit wann, Seher, ist eine Hochzeit mit einem jungen Mädchen denn Verrat? Es geschieht tausendmal auf den Weiden, immer wieder, und meine Enkeltochter Kuandi erwartet schon sehnsüchtig seine Rückkehr. Außerdem - er ist ein Seher. Und im Klan der Berge gibt es bereits einen. Es wird Zeit, dass er sich einen neuen Klan sucht.«
Aus den Augenwinkeln sah Awin das Gesicht Welas, die ungläubig glotzte. Er war sich ziemlich sicher, dass er selbst auch ein ausgesprochen dummes Gesicht machte. Aber dann sammelte er sich und sagte: »Dein Angebot ehrt mich, Schmied Harmin vom Fuchs-Klan. Du verstehst hoffentlich, dass ich es nicht annehmen kann?«
In das zufriedene Grinsen Currus hinein erwiderte Harmin: »Ich verstehe, dass du dich nicht jetzt entscheiden kannst, Awin Sehersohn, aber du solltest eine Nacht darüber schlafen. Bei Licht betrachtet, sieht vieles anders aus.«
Awin nickte. Zum einen, weil es ihm Zeit verschaffte, zum
anderen, weil er Currus Empörung genoss. Als Harmin gegangen war, sagte Eri: »Unser Klan hat dich großgezogen, hat dir einen unvergleichlichen Lehrer zur Seite gestellt - und nun ziehst du auch nur in Erwägung, uns zu verlassen?«
»Ich werde tun, was ich tun muss, Yaman Eri«, entgegnete Awin düster.
»Das sagen noch stets alle Verräter«, erwiderte Eri voller Verachtung.
Awin zuckte mit den Schultern, drehte sich um und ging in Richtung der Hügel davon. Wela lief ihm nach. Erst als sie den Kreis der Beratung und auch die letzten Zelte des Lagers hinter sich gelassen hatten, drehte er sich um: »Was willst du?«, herrschte er sie an, viel unfreundlicher, als er es beabsichtigt hatte.
»Du willst doch nicht wirklich diese Kuh heiraten und … und … uns verlassen?«
»Das wird sich zeigen«, gab er harsch zurück.
Wela blieb stehen. Ihm war, als hätte er im schwachen Licht des Heolins Tränen in ihren Augen gesehen. Aber er lief weiter. Er musste nachdenken, und dazu musste er allein sein. Hatten sie vergessen, weswegen sie hier waren? Sahen sie denn nicht, dass er alles versuchte, seine Klanbrüder und -schwestern zu retten? Wenn es sein musste, wenn sie ihm keine andere Wahl ließen, dann würde er dafür vielleicht sogar einen Verrat begehen.
Kämpfe
AWIN SUCHTE SICH einen Steinkegel und setzte sich auf die windgeschützte Seite. Er fragte sich, ob die Ahnen ihm in dieser Sache beistehen würden. Eine Krähe flatterte auf und krächzte missmutig, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Offenbar hatte er ihren Schlaf gestört. Er fröstelte, der Südwind ließ nasskalte Luft über die Hügel ziehen, und die ging durch alle Schichten seiner Kleidung. Er wickelte den Heolin wieder sorgsam ein, denn er wollte nicht gesehen und schon gar nicht gestört werden. Unter ihm lag das Lager. Er beobachtete, wie sich der Kreis der Beratung nach und nach leerte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Harmins Angebot hatte ihn völlig überrumpelt. Es kam natürlich gar nicht in Frage, dass er es annahm. Er konnte den Schmied sogar verstehen: Es gab keinen Seher im Fuchs-Klan, er wäre also willkommen. Wie vorteilhaft, wenn er auch noch den berühmten Lichtstein mitbringen würde. Offenbar war Harmin bereit, dafür darüber hinwegzusehen, dass Awins Sehergabe erloschen war. Der Schmied verhielt sich ganz wie ein umsichtiger Yaman, bemüht, den Wohlstand seines Klans zu mehren. Nur, dass er gar nicht der Yaman war. Aber Auryd war weit im Süden, auf der Jagd nach dem Frevler, der dieses ganze Unglück angerichtet hatte.
Awin seufzte. Er hatte Wela hart vor den Kopf gestoßen. Er würde sich entschuldigen, später, wenn er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er versuchte, die Anspannung abzuschütteln, die sich seiner bemächtigt hatte. Das Lager zu seinen Füßen schien nicht zur Ruhe zu kommen. Zahlreiche Feuer
brannten zwischen den Zelten, und von einigen hörte er sogar Trommelschlag, Gesang und Gelächter. Natürlich, nicht alle Sippen hatten Verluste erlitten, und für diese war das hier nur eine große Versammlung, ein Dhanegedh, den es zu feiern galt. An den meisten Feuern ging es jedoch wesentlich ruhiger zu, und Awin meinte zu spüren, dass ein tiefes Gefühl von Trauer und Verlust darauf wartete, dass der Lärm endlich verstummte. Drei Männer tauchten jetzt im verlassenen Kreis der Beratung auf. Einen erkannte Awin als den Seher Isgi wieder. Er fragte sich, was Horkets rechte Hand dort zu tun hatte. Er sprach mit den
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