Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
die Würdenträger einander an, und schnell war der Auslöser für den Streit vergessen. Awin sah beklommen, wie sich rechts und links Yamane und Seher gegenseitig fast an die Gurgel gingen und ein jeder versuchte, die anderen niederzubrüllen, weshalb es immer lauter wurde. Auch die Krieger außerhalb des heiligen Kreises trugen ihren Teil zum Streit bei. Es wäre sicher Blut geflossen, wenn die Männer bewaffnet gewesen wären. Der Aufruhr war erschreckend, und Awin dachte mit Sorge daran, was diese Männer tun würden, wenn Isgi seine unausweichliche Anklage gegen sie erhob; die Hakul waren im Innersten erschüttert, denn noch nie war ihr Stamm so hart geprüft worden wie in diesen Tagen. Würden sie Curru noch anhören oder gleich auf der Stelle mit bloßen Händen zerreißen, wenn Isgi alle Schuld für Slahans Auftauchen auf sie abwälzte? Es war Wahnsinn, dass sie sich hierhergewagt hatten, das begriff Awin
jetzt. Doch es war zu spät, um umzukehren. Er biss die Zähne zusammen und schickte ein stummes Gebet an Tengwil, sie möge seinen Schicksalsfaden nicht reißen lassen, nicht heute. Dann beobachtete er Horket. Der Heredhan saß ruhig auf seinem steinernen Sitz und betrachtete das Durcheinander mit einer Geduld, als ginge ihn das alles nichts an. Er winkte Isgi heran und besprach sich leise mit ihm, bis der Lärm allmählich wieder verebbte.
»Ich danke euch, meine Brüder«, setzte Isgi seine Rede mit einem feinen Lächeln fort. »Nun ist es vielleicht so, dass wir die Weisheit der Seher nicht brauchen, um die Frevler in unserer Mitte zu finden, jene unglückseligen Hakul, die die Göttin erweckten, die in ihrer unfassbaren Überheblichkeit hinabstiegen an ihr Lager und sie aus ihrem Jahrhunderte langen Schlaf rissen.« Nun musste kommen, was Awin befürchtet hatte. Er widerstand der Versuchung, die Augen zu schließen. Isgi streckte seine Hand in anklagender Geste aus und rief: »Dort drüben stehen sie, die Männer vom Klan der Schwarzen Berge!«
Awin hielt den Atem an - aber nichts geschah. Er sah, dass Isgi wenigstens ebenso verblüfft war wie er selbst. Eine tiefe Stille hatte sich über die Versammlung gelegt. Doch Awin spürte schnell, dass es keinen Grund gab, sich in Sicherheit zu fühlen, denn in dieser Stille lauerte eine abgrundtiefe Feindseligkeit. Es schien fast so, als könne sie sich nur noch nicht entscheiden, wie sie über ihnen zusammenschlagen und sie begraben wollte.
»Ich sehe, Isgi, dass die Oberhäupter der Klans nicht so dumm sind, jede deiner Lügen zu schlucken«, rief Curru laut.
Und erst jetzt brach der Tumult los. Es war leicht zu erkennen, wer auf Horkets Seite stand - es waren beunruhigend viele Klans, wie Awin feststellte. Sie wurden hart bedrängt, und er
bekam einige Schläge und Knüffe ab. Er war jetzt sehr froh, dass Horket das Tragen von Dolchen verboten hatte. Wieder dauerte es eine ganze Weile, bis sich die wütende Menge beruhigte und Isgi erneut das Wort ergreifen konnte. Was folgte, erschien Awin im Nachhinein wie ein Albtraum: Isgi beschuldigte sie, den Heolin nicht bewacht und dann auch noch Xlifara Slahan aufgestört zu haben. Curru hielt dem entgegen, dass es schließlich ein Vetter des Heredhans gewesen war, der den Räuber mit frischen Pferden versorgt hatte, und dass jener Räuber die Gefallene Göttin geweckt hatte, noch bevor sie selbst von Heredhan Horket schließlich in Uos Mund hineingezwungen worden waren. Und immerhin hätten sie den Lichtstein doch wieder gewonnen! Aber Isgi behauptete, der Stein sei eine Fälschung. Niemand kam auf den Einfall, den Lichtstein in Augenschein zu nehmen, niemand außer Awin, der es plötzlich für zu gefährlich hielt. Was, wenn ihm einer im unvermeidlichen Gerangel den Stab entriss? Also hielt er sich zurück und wartete auf die passende Gelegenheit.
Die Zeit verstrich. Beide Seher verstanden es hervorragend, mit Halbwahrheiten, Auslassungen und Übertreibungen die Wahrheit so zu verzerren, dass Awin schließlich selbst kaum noch wusste, was wirklich geschehen war. Er musste zugeben, dass Curru geschickt war, aber Isgi war es auch. Das Wortgefecht wurde immer wieder unterbrochen, weil die Yamane, Seher und Schmiede im Rat, ebenso wie die Krieger außerhalb des Kreises, die beiden Streithähne bei jeder sich bietenden Gelegenheit niederbrüllten. Awin versuchte, die anderen Sippen einzuschätzen. Einige waren offen auf ihrer Seite, vermutlich nicht, weil sie Curru glaubten, sondern eher weil sie einen anderen
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