Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
vorgebracht, denn schwer lastet das Verhängnis auf den Weiden unseres Stammes.«
»Wie lange beraten die Männer denn schon?«
»Seit dem Mittag erst, auch wenn schon gestern viele Klans hier waren. Aber es waren Lager zu errichten und Eide zu sprechen. Es ist viel böses Blut mit hierhergebracht worden, und es ist erstaunlich, dass noch kein neues hinzugekommen ist - Eide hin oder her. Doch sag, von welchem Klan bist du, ich sehe weder Sgerlanze noch Sgertan bei euch.«
»Ich bin Awin, ein Seher vom Klan der Schwarzen Berge«, antwortete Awin möglichst beiläufig.
Der Mann starrte ihn mit großen Augen an. »So bist du von dem Klan, der all das Unglück über uns gebracht hat?« Dann verfinsterte sich seine Miene. »Es ist mutig von euch, vielleicht auch dumm, hierherzukommen.«
»Und es ist dumm von dir, von Dingen zu reden, von denen du nichts verstehst, Hakul«, mischte sich Curru ein.
Der Mann verstummte und wandte sich ab.
»Es gibt keinen Grund, mich so vorwurfsvoll anzusehen, junger Seher«, erklärte Curru grimmig. »Dies ist der Dhanegedh der Hakul, wer hier glaubt, mit Höflichkeit sein Ziel zu erreichen, wird untergehen.«
»Dennoch glaube ich, dass wir uns nicht mehr Feinde schaffen sollten als unbedingt nötig«, entgegnete Awin.
»Dies lass meine Sorge sein, mein Junge. Du weißt, dass Eri mich zum Sprecher für unseren Klan ernannt hat.«
Davon wusste Awin allerdings nichts. Curru grinste zufrieden. »Nein? Dann weißt du vermutlich auch nicht, dass im Rat immer nur ein Vertreter einer Sippe das Wort ergreifen darf. Was immer du also gesagt haben willst, solltest du nun mir mitteilen, junger Seher.«
Awin brachte kein Wort heraus, denn darauf war er nicht
vorbereitet. Er wusste zwar nicht, was er Horket sagen sollte, aber er hatte darauf vertraut, dass er die richtigen Worte schon finden würde. Und jetzt durfte er gar nicht sprechen?
»Du wunderst dich, mein Junge? Ich gebe zu, auch ich habe gestaunt, als ich von diesem neuen Gesetz hörte. Horket hat es erlassen. Er kennt viele Wege, unliebsame Stimmen zum Schweigen zu bringen, und dies ist einer der wenigen, bei dem Messerklingen keine Rolle spielen«, fügte Curru hinzu.
Awins Geist war wie leergefegt. Dann schüttelte er den Kopf. Er würde sich schon irgendwie Gehör verschaffen. Zur Not mit dem Lichtstein. Wenn nur Merege irgendwo zu sehen gewesen wäre.
Endlich ließ sich Heredhan Horket dazu herab, zu erscheinen. Er schritt zu den beiden Säulen, murmelte kurz seine Gebete und trat dann aus den Schatten. Zwei Männer waren bei ihm. Den einen hatte Awin schon am Glutrücken gesehen und schon da für einen von Horkets Söhnen gehalten. Der andere schien sein Bruder zu sein. Horket trat in den Kreis. Sein pelzverbrämter Mantel schleifte über den Boden. Er ließ seine kalten Augen über die Runde schweifen, bis das letzte Gespräch unter den Yamanen erstorben war, dann setzte er sich, und der große steinerne Sitz schien für seine breitschultrige Gestalt noch zu klein zu sein. Awin kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass Horket eine sehr beeindruckende Persönlichkeit war. Isgi war mit ihm gekommen und trat nun nach vorn. Sein großer Kopf schoss unruhig hin und her. Seine rechte Hand war verbunden. Als er Awin und seine Klanbrüder entdeckte, verzog er angewidert das Gesicht. Dann wandte er sich kurz dem Heredhan zu, deutete eine Verneigung an und begann zu sprechen: »Ich danke für eure Geduld, Brüder. Vieles wurde heute schon gesagt, über den Zorn der Göttin, unsere unsagbaren
Verluste, unsere Trauer und unsere Wut. Nach all dem, was wir heute schon gehört haben, wird wohl niemand mehr daran zweifeln, dass es Xlifara Slahan selbst ist, die über unsere Weiden zieht und Mensch und Vieh tötet. Was aber hat ihren Zorn geweckt? Darüber kamen uns seltsame Geschichten zu Ohren, und wir werden herausfinden müssen, was davon wahr ist und was nicht. Aber vor allem, wie können wir die Göttin besänftigen? Viele Seher sind hier, und keiner weiß die Antwort. Ich sprach heute mit Kluwe, den jeder von euch als den hellsichtigsten meines Handwerks kennt. Doch Kluwe hüllt sich in Schweigen.«
Alle Blicke wandten sich dem alten Seher zu, der neben Werek in seinem Sessel saß. Doch er schien zu schlafen.
»Wir wissen selbst, dass du blind bist, Isgi«, rief jetzt ein Yaman aus dem Kreis. »Berichte etwas Neues!«
»Schweig, du Narr!«, antwortete ein anderer laut.
Sofort brach der Aufruhr wieder los, denn nun brüllten
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