Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Merege reden, ihr erklären, warum er den Stab - vorübergehend - aus der Hand gegeben hatte, und er musste ihr von seinem Traum berichten. Er kroch aus dem niedrigen Zelt. Schwerer Nebel hatte sich über das Ahnental gelegt, und es war kaum zu bemerken, dass die Sonne aufgegangen war. Awin spürte eine seltsame Anspannung, die über den Zelten lag.
»Was ist denn los?«, fragte er Blohetan, den er am Feuer traf.
»Horket hatte sein Urteil über Kenak von den Schwarzen Dolchen schon vor Tagesanbruch gefällt. Er soll für den Mord mit seinem Leben bezahlen«, erklärte der Älteste und fuhr flüsternd fort: »Er hat Yaman Skian, den Bruder dieses Mannes, nicht einmal angehört.«
»Er hat gegen das Fehdeverbot verstoßen. Das Urteil ist gerecht«, brummte Uredh, der aus dem Dunst auftauchte.
»Dennoch, es hätte besser ausgesehen, wenn der Heredhan den Yaman angehört hätte. Und hat Horket nicht selbst zu diesem Unglück beigetragen mit seinen neuen Gesetzen? Und jetzt? Er gönnt Kenak ja nicht einmal das Schwert, sondern will ihn erwürgen wie einen ehrlosen Dieb. Viele Freunde macht sich Horket mit dieser Härte sicher nicht«, meinte Blohetan besorgt.
»Kenak hätte den Mann eben nicht töten sollen, nicht im Ahnental und schon gar nicht während eines Fehdefriedens«, hielt Uredh dem entgegen. »Und was ist das überhaupt für ein Klan, der die alten Gesetze nicht achtet?«
Darauf wusste Blohetan nun nichts zu sagen. Awin ließ die beiden stehen und suchte nach Merege, aber sie war weder im Zelt noch an einem der Feuer oder bei den Pferden. Da er sie nicht finden konnte, beschloss er, diese Suche zu verschieben und einer plötzlichen Eingebung zu folgen: Er brauchte jemanden, der ihm helfen konnte, ein Bild aus seinem Traum zu verstehen. Kurz darauf wanderte er durch das Lager. Der Nebel war hilfreich, denn so konnte er sich weitgehend unerkannt zwischen den Feuern bewegen. Überall sprach man über Kenaks bevorstehende Hinrichtung. Viele Hakul fanden das Urteil zu hart, wenn auch im Kern nicht ungerecht. Am meisten schien sie zu stören, dass der Yaman des angeklagten Kriegers nicht angehört worden war.
Es schien, als wären alle anderen Ereignisse des Vortages mit einem Mal ziemlich unwichtig geworden. Niemand sprach über den Heolin, ganz im Gegensatz zu dem, was sich Curru erhofft hatte. Oder war Eri gar nicht durch das Lager gezogen? Awin tat das vorläufig mit einem Achselzucken ab. Er hatte Wichtigeres zu tun. Unauffällig hörte er sich nach einer Sippe um, die ihre Herden möglichst weit östlich des Dhurys weiden sollte. Er erfuhr, dass das am ehesten auf den Klan des Löwen zutraf, und fragte sich nach den Zelten dieses Klans durch. Der Yaman des Schwarzen Löwen, ein schwerfälliger Mann mit geflochtenem Bart, saß missmutig im Qualm eines fast niedergebrannten Feuers und schlang ein Stück kaltes Fleisch hinunter. Er erkannte Awin gleich wieder: »Du bist der Jüngling, der reden wollte, wo selbst viele Alte schweigen müssen. Was willst du?«
Awin ließ sich durch die Unhöflichkeit nicht abschrecken: »Ich habe eine Frage, ehrwürdiger Yaman, denn ich habe etwas gesehen und hoffe, du kannst mir sagen, was es ist.« Awin beschrieb ihm dann möglichst genau die Festung, die er im Traum gesehen hatte, und fragte, ob der Yaman sie kenne.
»Ich verstehe die Frage nicht, junger Krieger. Wenn du sie gesehen hast, musst du doch wissen, wie sie heißt und wo sie liegt.«
»Ich sah sie in einem Traum, den Tengwil mir gesandt hat, ehrwürdiger Yaman«, erklärte Awin.
»Ich hörte, deine Sehergabe sei erloschen, Hakul«, erwiderte der Yaman zögernd, aber doch beeindruckt.
»Vieles, was du hier hörst, Yaman, ist falsch. Ich sah sie heute Nacht, und Slahans Stürme rannten gegen sie an. Woher sollte ich diese Festung sonst kennen?«
Der Yaman kratzte sich im Nacken. »Drei Türme, sagst du? Einer schlank und die Mauern weit überragend? Dies klingt nach der Festung Pursu. Sie gehört den verfluchten Männertöterinnen, den Viramatai. Du findest sie weit, sehr weit im Osten, schon fast am Fuß der Sonnenberge. Und du hast sie im Traum gesehen?«, fragte der Yaman, und als Awin ernst nickte, fügte er hinzu: »Mir scheint, du bist wirklich ein Seher, und ich werde nun aufmerksamer zuhören, wenn du noch einmal das Wort im Dhanegedh ergreifen solltest.«
Awins Hochstimmung verflog, als ihm auf dem Rückweg Merege plötzlich den Weg verstellte. Wie ein Geist war sie aus dem Nebel
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