Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
… geblendet?«
»So kannst du es ausdrücken, junger Seher.«
Das Wasser umspülte Awins Füße. Er fühlte sich unglaublich erleichtert und lachte plötzlich befreit auf.
»Ich glaube, zur Fröhlichkeit ist wenig Anlass, Awin. Es war weise, dass du den Stein aus der Hand gegeben hast. Weniger weise war es, ihn deinem Lehrer anzuvertrauen.«
Awins gute Laune schwand sofort. »Weißt du, was geschehen wird, ehrwürdige Senis?«
»Nein, Awin. Der Heolin ist wie ein Schleier, nicht nur für dich, und ich kann wenig von dem sehen, was die Zukunft bereithält. Und von dem wenigen, was ich erkenne, werde ich dir noch weniger sagen, denn das wäre gefährlich.«
Awin verstand nicht, was daran gefährlich sein sollte. Er rief: »Aber Slahan, sie hat meine Schwester und all die anderen Hakul entführt. Warum? Ich dachte, die Gefallene Göttin sei für immer in die Wüste gebannt. Wie konnte sie sie verlassen? Und wo will sie hin?«
»Große Fragen stellst du da, Awin.« Senis sah ihn an und seufzte. Dann erklärte sie: »Auch ich weiß längst nicht auf alles eine Antwort. Ich kann dir nur sagen, dass Fahs, als er seine Geliebte Xlifara Slahan so schwer für ihren Verrat bestrafte, sie mit zwei Flüchen belegte. Du kannst sie dir als Ketten vorstellen. Die eine Kette fesselte sie an diese Wüste, die doch zuvor ihr eigener blühender Garten gewesen war, die andere verhinderte, dass sie offenes Wasser überqueren oder gar trinken konnte, weshalb sie ihren Durst mit dem Blut von Menschen oder Tieren stillen muss. Nicht einmal einen kleinen Bach kann sie überschreiten, und dafür sollten wir dankbar sein, denn sonst wäre sie wohl längst dort, wo es sie hinzieht. Als meine Ahntochter die Göttin in die Flucht schlug, unten in Uos Mund, da hat sie wohl auch die erste Fessel zerstört. Vielleicht war auch der Schmerz, den Slahan empfand, so groß, dass sie sie selbst sprengte.« Senis sah ihm ernst in die Augen. »Letzteres ist jedenfalls das, was du meiner Ahntochter erzählen solltest, Seher, wenn du willst, dass sie sich noch einmal der Göttin entgegenstellt. Aber deine Gabe ist zu dir zurückgekehrt, Awin. Du solltest sie nutzen, um selbst herauszufinden, was Slahan vorhat, denn es wäre nicht gut, wenn ich dir zu sehr helfen würde.«
»Aber wir brauchen dich!«, rief Awin. Das Rauschen der Wellen wurde lauter.
»Halte Ausschau nach Osten. Ich fürchte, sie wird bald finden, was sie dort sucht.«
Nach Osten? , wunderte sich Awin. Das Rauschen wuchs zu einem Brüllen. Es kam von irgendwo hinter ihm. Er drehte sich um - und ein Sandsturm brach über ihn herein. Er schrie auf, rief nach Senis, aber sie war ebenso fort wie das Meer und die Stadt. Der Sturm warf ihn beinahe um. Er drehte sich zur Seite. Durch den Sturm wankten schemenhafte Gestalten. Awin hielt die Hand schützend vor die Augen, als ob das in einem Sandsturm etwas nützen würde. Nyet, dachte er. Das war eindeutig Nyet der Angreifer, Slahans stärkster Sturmwind. Awin ahnte, wo er sich befand. »Gunwa«, brüllte er, »Gunwa!«, und stolperte plötzlich durch kniehohes Herbstlaub. Knochenweiße Bäume umstanden ihn. Er fand sich am Rand eines Waldes wieder, der Sandsturm quälte die schlanken Bäume, und Blätter wirbelten durch die Luft. Es passte nicht zusammen. Dort ragte etwas aus der Ebene, fast verhüllt von Sand und Staub, ein Felsen, hoch und mächtig. Er kniff die Augen zusammen. Nein, das war kein Fels, es war ein Bauwerk von Menschenhand, eine Festung, ähnlich wie die Rote Festung in der Nähe des Glutrückens. Er erkannte drei Türme, die dem Sturm trotzten, einer davon außerordentlich schmal und hoch. Um ihn herum waren noch mehr dieser schweigsamen Gestalten, sie schienen alle der Festung zuzustreben. Er versuchte, eine von ihnen zu erreichen. »Gunwa!«, rief er wieder. Da packte ihn jemand hart an der Schulter. Er fuhr herum und blickte in das finstere Gesicht Nyets. Er schlug die Augen auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Tuge, der ihn an der Schulter hielt.
Awin glotzte ihn an.
»Du hast geträumt, scheint mir. Dreimal hast du den Namen deiner Schwester gerufen.« Der Bogner sah ihn prüfend an. Er wusste um die Bedeutung von Träumen.
»Gunwa«, murmelte Awin benommen. Er war sich fast sicher, dass die Gestalt, die er eben beinahe berührt hätte, seine Schwester gewesen war.
Awin musste erst selbst verstehen, was geschehen war, also wich er den Fragen des Bogners aus und vertröstete ihn auf später. Er musste mit
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