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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem zorn des lammes …!«
    »Das Lamm!«, schrie eine dünne Stimme. Scheinbar fiel weiteren Zuhörern ein, dass sie doch Latein verstanden. Der Langnasige schwieg; er hatte die Hände erhoben und zu Fäusten geballt, und sein Mund arbeitete.
    »Das Lamm!«, donnerte der Mönch. »Das Lamm, dessen Blut sie getrunken und dessen Fleisch sie gegessen haben, das Lamm, das für uns gestorben ist und das von ihnen gerichtet wurde …«
    »Die Christusmörder!« Die dünne Stimme erneut.
    »Seht mich an«, rief der Langnasige. »Ich stehe hier als Zeuge für ihre Unredlichkeit. Einst hatte ich ein Vermögen, einst hatte ich einen Namen …«
    »Die verfluchten Juden!«
    »… und gott zerstreute sie über die Länder der Erde zur Strafe dafür, dass sie seinen Sohn ans Kreuz geschlagen haben …!«
    »Der sagte: Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«, brummte ich. Niemand hörte auf mich. Ich zerrte an Rechbergs Arm, doch er starrte wie fasziniert von dem Mönch zu den Männern, die so unverhofft seine Hetzpredigt aufgenommen hatten, und zurück. Der Mönch stand auf seiner wankenden Staffelei wie ein Kapitän auf dem Deck seines Schiffes; jede seiner pompösen Gebärden bezeugte, dass er genau erkannte, dass die Ersten ihm allen Umständen zum Trotz zu verfallen begannen. Ich versuchte, den Mann genauer zu betrachten, aber auf die Entfernung waren meine Augen zu schwach, als dass ich mehr erkannt hätte als ein schmales, dunkles Gesicht. Ich hatte ihn für einen der üblichen Schwätzer gehalten; ich hatte ihn unterschätzt.
    »Der Herr sprach durch Joel zu den Verstockten: Mein Gold und mein Silber habt ihr mir genommen und in eure Tempel gebracht, ich aber will es euch heimzahlen auf euren Kopf!«
    Kardinal Jagiello hatte sich einen passenden Gefährten gesucht. Der Bruder des Königs galt als einer der unerbittlichsten Feinde der jüdischen Bevölkerung Krakaus. Doch wenn er mit seiner hohen, monotonen Stimme sprach, fielen die Zuhörer reihenweise in Schlaf. Kardinal Jagiello hätte es nicht einmal vermocht, ein Heer von blutgierigen Landsknechten dazu zu überreden, in die geöffneten Tore einer belagerten Stadt zu rennen; er musste seinem Schöpfer auf den Knien danken, dass er ihm jemanden geschickt hatte, der die Menge in seinen Bann ziehen konnte. Was würde geschehen, wenn der Mönch erst die polnische Sprache erlernt hatte?
    »Sie nehmen uns das Brot zum Essen und die Luft zum Atmen. Seht mich an – einst beeilten sich Fürsten, mir die Hand zu schütteln! Und als ich um Hilfe bat, es ihnen heimzuzahlen, spannten die Soldaten des Königs mich in den Block …«
    Die Krakauer waren vor fast achtzig Jahren über ihre jüdischen Mitbürger hergefallen. Viele erinnerten sich mit Scham daran. Die meisten waren der Ansicht, dass so etwas nicht wieder vorkommen würde. Den Wenigsten war klar, dass nur derrichtige Anführer erscheinen musste, damit es wieder vorkam. Die falschen Zitate aus der Bibel und die verzerrten Prophezeiungen taten bei mir keine Wirkung, und ich sah viele andere, die die Köpfe schüttelten oder die Hälse reckten, um nach einem Ausweg aus der Menge zu suchen, doch die dünne Stimme und das Gejammer des Langnasigen bewiesen, dass die Worte des Mönchs bei manchen auf fruchtbaren Boden fielen … und wenn diese nur genügend davon überzeugt waren, heute eine Offenbarung erlebt zu haben und darüber sprachen … wenn man auf das erste Feld eines Schachbretts nur ein einziges Reiskorn legte und nichts weiter tat, als dass man die Anzahl beim nächsten Feld verdoppelte und so fort …
    »Du sprichst die Wahrheit, Bruder Avellino!«
    »Seht mich an: Ich stehe hier und bezeuge, dass ich einst …«
    »Avellino!«
    » avellino !«
    Und dann – wie hatten sie sich so schnell gefunden? – im Chor: »Avellino-Avellino-Avellino …!«
    »Ruft aus unter den Gerechten: bereitet euch zum heiligen krieg ! Bietet die Starken auf! Lasst herzukommen und hinaufziehen alle Kriegsleute! Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße! Der Schwache spreche: ich bin stark ! Greift zur Sichel, denn die Ernte ist reif! Kommt und tretet, denn die Kelter ist voll, die Kufen laufen über, denn ihre Bosheit ist groß! Des Herrn Tag ist nahe im Tal der …«
    Die Glocken der Marienkirche drüben am Marktplatz dröhnten plötzlich los, dass die Menge zusammenfuhr. Die Glocken der Michaels- und der Georgskirche auf dem Wawel folgten

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