Der Sohn (German Edition)
Wohnung sei zwar voller nützlicher DNA -Spuren, aber bis auf einige Möbelstücke leider verlassen gewesen, sagt Koornstra. Mutter und Sohn dürften eilig das Weite gesucht haben.
Ich denke daran, wie erschrocken Monica klang, als ich mit ihr telefonierte. Für mich hörte es sich so aufrichtig an. Wie hat sie angesichts der vielen fruchtlosen Versuche, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen – von meinen Bemühungen darum gar nicht zu reden – , so etwas riskieren können? Ob sie alles aufgegeben hat, um jetzt mit dem gestohlenen Geld in ihrem Heimatland neu anzufangen?
»Es gibt da einen Mann…«, beginne ich.
Meine Mutter sieht mich erschrocken an und schüttelt den Kopf.
»Ich glaube, dass er meinen Vater –«
»Saar!«, ruft meine Mutter. »Ich will nicht, dass du das sagst!«
»Er muss ihn gestoßen haben«, sage ich, »…und einen alten Mann umzustoßen ist versuchter Mord!«
»Hör auf, das wissen wir doch gar nicht, Saar!«
Koornstra mustert uns.
»Was für ein Mann? Hat er etwas hiermit zu tun?«
Ich denke wieder an Tess. Wie unmenschlich ihr Schreien klang, als man sie untersuchen wollte. Sie will nicht reden, über nichts. Man wird sie vorladen. Ich muss an sie denken. Bevor ich etwas sage, muss ich wissen, was mit Tess passiert ist. Ist das ein Vergehen?
»Nein«, sage ich. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Sara ist sehr durcheinander, nach allem, was passiert ist«, erklärt meine Mutter. »Sie sieht im Moment überall Gespenster.«
Schnell sind sie nicht gerade, denke ich, Koornstra und seine Kollegen. Wetten, dass David und seine Mutter schon in Ghana sind! Und falls sie überhaupt beweisen können, dass Raaijmakers etwas damit zu tun hat, was würde er kriegen, für Überfall, Beinahe-Vergewaltigung und Stoß? Ein paar Jahre?
Hieb- und stichfeste Beweise für seine Beteiligung an dem Überfall habe ich nicht. In unserem Haus habe ich ihn nicht gesehen, er war keiner von den beiden Männern. Trotzdem bin ich mir sicher. Ich spüre das. Und je stärker ich es spüre, desto mehr will ich wissen.
105
Ich habe anderthalb Flaschen Wein getrunken und alles notiert. Was ich damit anfangen werde – ich weiß es nicht. Ein Mittel gegen das Vergessen? Um mich hin und wieder wachzurütteln? Böses darf nie durch Böses vergolten werden. Erklären heißt nicht entschuldigen.
Geert van Drongen, der als sogenannter Freund von Raaijmakers auf dessen Facebookseite stand, hatte sofort den Hörer abgenommen. Ich behauptete, ich hätte seinen Namen im Archiv der Universität Amsterdam gefunden. Auf meine weitere Lüge, dass ich eine Arbeit über die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs schreiben wolle, reagierte er verwundert. Wie lange ich denn schon studierte, fragte er.
»Ich studiere seit vier Jahren nebenher Geschichte«, hatte ich behauptet. »Bei Professor Gerritsma.« (Dass Gerritsma, ein jüngerer Kollege meines Vaters, immer noch an der Universität doziert, weiß ich zufällig.)
Was mich besonders interessiere, fuhr ich fort, seien die Vorlesungen von Herman Silverstein. Und welchen Einfluss sie bei seinen Studenten auf die Sicht des Krieges gehabt hätten.
Weil ich fand, dass ich nicht gleich nach Raaijmakers fragen konnte, erkundigte ich mich erst noch nach Theo ’t Hoff. Als ich dann zu Raaijmakers überlenkte, bestätigte van Drongen, dass er ihn wie ’t Hoff aus Amersfoort kenne.
»Theo kenne ich gut, er ist ein Jugendfreund von mir, wir sehen uns auch heute noch gelegentlich. Aber Ton – das ist ein Fall für sich.«
Ton habe doch auch Geschichte studiert, fragte ich auf gut Glück. Na ja, studiert, erwiderte er einschränkend. Er habe ein Jahr lang einige Vorlesungen mit ihnen zusammen besucht.
Ich fragte ihn, ob es stimme, dass Tons Vater mit den Nazis kollaboriert habe.
Verdutzt fragte van Drongen, wie ich denn das herausgefunden hätte. Ich gab vor, im Material von Professor Silverstein etwas darüber gelesen zu haben. Er nahm mir das tatsächlich ab. Dass jemand mit diesem Hintergrund Neuere Geschichte studiert habe, erscheine mir im Rahmen meines Themas besonders faszinierend, sagte ich. Ob er mir mehr darüber erzählen könne? Natürlich würde ich Raaijmakers selbst auch anrufen, aber ich wolle zunächst weitere Informationen über ihn zusammentragen. Das verstehe er doch hoffentlich. Solche Sachen seien ja immer recht heikel. Ja, das verstehe er, sagte er.
Wir hatten einen Termin vereinbart, und ich war zu ihm nach Amersfoort gefahren.
Geert van Drongen.
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