Der Sohn (German Edition)
Vertikale gesehen – gehend, stehend, sitzend. Redend. Lachend. Spottend. Selten in der Horizontale. Selten ächzend, es sei denn vor Lachen.
Nach Lachen war ihm aber nicht zumute, als er dort im Garten lag. Er lag ganz still da, mit schreckgeweiteten Augen. Und ächzte ab und zu. Vor Schmerzen. Vor Schreck.
Für mich steht jetzt fest, dass er nicht einfach gefallen ist. Und der Mann, der ihn gestoßen hat – und mein Vergewaltiger –, war Arbeitgeber von David Vandijck. So viel Zufall gibt es doch gar nicht, oder?
Ich will mit der Polizistin reden, die damals meine Anzeige aufgenommen hat. Wo ist sie?
»Frau Silverstein?«
»Wo ist Frau in ’t Veld?«
»Das sagte ich Ihnen doch gerade, sie ist nach Hause gegangen.«
»Ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Ich habe bei ihr Anzeige erstattet.«
»Worum geht es denn?«
»Eine Anzeige!«, schreie ich fast. »Ich muss mit ihr sprechen!«
Der Beamte sieht mich an. »Ich habe hier Ihre Akte.«
»Nein!«, rufe ich.
Der Mann sieht mich nur an. Sein Blick verrät, dass er in Gedanken gerade nach dem passenden Abschnitt aus seinem Panikmanagementkurs sucht.
»Möchten Sie vielleicht mit einer anderen Kollegin sprechen?«
Ich beruhige mich. »Ja, gut.«
Der Beamte geht zum Telefon. Während des Gesprächs lässt er mich nicht aus den Augen.
»Hier ist eine Dame, die gerne…«
Auf die Antwort, die er erhält, nickt er.
Fragend, die Hand über der Muschel, sagt er zu mir: »Im Moment ist leider nur ein männlicher Kollege verfügbar. Er ist häufiger mit solchen Fällen befasst. Wären Sie einverstanden, mit ihm zu reden?«
»Was meinen Sie mit ›solche Fälle‹?«, frage ich misstrauisch.
»Er kommt gleich«, sagt er ausweichend, aber resolut. »Dann können Sie selbst entscheiden, ob Sie mit ihm sprechen möchten.«
Ich fühle mich gedemütigt und manipuliert. Kennt dieser Mann meine Akte? Hat er sie genüsslich studiert? Ich komme mir schmutzig vor und schäme mich wie ein Kind, dem beim Doktor die Unterhose runtergezogen wird. Am liebsten würde ich schreien.
»Ich höre, Sie möchten reden?«
Der Beamte, der mich anspricht, kann kaum älter als fünfundzwanzig sein. Ich sehe ihn an, sehe die leere Korrektheit in seinen blauen Augen. Da erscheint mir alles, was ich mir zurechtgelegt habe, völlig idiotisch.
Ich danke ihm und gehe zur Tür. Stolpere fast noch über die Fußmatte.
»Ich komme ein anderes Mal wieder«, murmele ich.
104
Kommissar Koornstra sucht uns im Haus meiner Mutter auf, und ich erschrecke bei seinem Erscheinen, als wäre ich selbst verdächtig. Er ist in Zivil, aber irgendetwas an seiner Kleidung (oder ist es seine Haltung?) verbreitet trotzdem sofort Polizeiatmosphäre. Er habe mir etwas mitzuteilen und möchte mich etwas fragen, hatte er vorher telefonisch angekündigt. Wie oft haben wir inzwischen schon aussagen müssen?!
Koornstra ist ein etwas steifer Mann. Er hat wohl schon etliche Dienstjahre auf dem Buckel, und die menschlichen Abgründe scheinen keine großen Geheimnisse mehr für ihn zu bergen – das hat in seinem Gesicht eine müde, bekümmerte Konsternation hinterlassen. Das Wort »Eile« scheint nicht zu seinem Vokabular zu gehören. Er agiert sehr ruhig, nimmt sich dabei aber trotzdem nicht mehr Zeit, als unbedingt nötig ist, um alles ordnungsgemäß abzuhandeln. Einen Kaffee schlägt er aus. Er hat eine Botschaft.
»Geht es, sitzen Sie gut?«
Meine Mutter sitzt neben mir, sie ist genauso angespannt wie ich.
Sie hätten von Anfang an eine Insidertat in Betracht gezogen, erzählt er. Es seien keine Fenster eingeschlagen worden, keine Türen aufgebrochen, es habe überhaupt keinerlei Spuren eines gewaltsamen Einbruchs gegeben. Nun hätten sie Gewissheit.
»Nach einer gründlichen Durchsuchung der Wohnung Ihrer Putzfrau, Monica Vandijck, können wir davon ausgehen, dass deren Sohn, David Vandijck, an dem Überfall auf Sie beteiligt gewesen ist. Wir haben Spuren gefunden, die mit seiner DNA identisch sind. Von den gestohlenen Gegenständen leider nichts. David muss den Schlüssel benutzt haben, den Sie seiner Mutter anvertraut haben.«
Ich gebe mich so geschockt, wie es von mir erwartet wird. Aber überrascht bin ich ganz und gar nicht. Alles, was ich inzwischen in Erfahrung gebracht habe, siedet unter meiner Haut. Sicherheitshalber spiele ich die total Erstaunte. Ich will nicht, dass er mir Fragen stellt, denen ich noch nicht gewachsen bin. Und mit deren Beantwortung ich Tess schaden könnte.
Monicas
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