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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Tiefe Raucherstimme mit ländlichem Akzent. Er nuschelte mit Pfeife im Mund. Rührte mit einem Stift im Pfeifenkopf, zündete den Tabak an und sog, in seinen Korbsessel zurückgelehnt, den Rauch ein. Ein typischer Sozialkundelehrer, wenn auch vielleicht nicht mehr so idealistisch. Ich wurde sofort zur Schülerin. Wie konnte so jemand einen Proleten wie Raaijmakers kennen?
    Er lieferte mir Fakten, die ich zum Teil schon kannte. Er nahm sich wirklich Zeit für mich.
    Ja, Tons Vater sei ein Nazi-Kollaborateur gewesen. Soweit er sich erinnere, habe er bei der niederländischen Polizei gearbeitet, sei Mitglied des NSB gewesen und habe gegen Geld Juden denunziert. Nach dem Krieg habe er gesessen, fünf, sechs Jahre oder sogar länger. Ton sei als Junge damit gehänselt worden – van Drongen hatte das mit eigenen Augen gesehen, es sei schlimm gewesen, sagte er. Kinder seien grausam. Ton sei als Kind von allen verhauen worden, von Größeren wie von Kleineren, man habe ihn wohl als vogelfrei betrachtet. Aber später sei er gefürchtet worden. Theo und er hätten sich ein paarmal für ihn eingesetzt, weil sie es ungerecht gefunden hätten, dass Ton für etwas bestraft werde, was sein Vater getan habe. Tons Eltern hätten sich nie auf der Straße blicken lassen. Ton sei aber auch ein schwieriger Junge gewesen, ängstlich und zugleich jähzornig, und er sei mit der Zeit immer unberechenbarer geworden.
    Van Drongen: »Er wurde zu Hause wohl auch geschlagen, jedenfalls hatte er immer überall blaue Flecken. Als wir mal zusammen baden waren, haben wir gesehen, dass er rote Striemen auf Schultern und Rücken hatte, feuerrot und richtig tief. Er behauptete, das komme von einer Grasallergie oder so, und ich weiß noch, dass mir dieser zornige lange Schlaks in dem Moment fast imponiert hat.«
    Mit Beginn der weiterführenden Schule hätten sie einander aus den Augen verloren, aber in Amsterdam, wo Ton in einer Kneipe an der Theke stand, seien sie sich zufällig wieder begegnet. Ton habe ihnen gratis Bier ausgeschenkt, so sehr habe er sich gefreut, sie wiederzusehen – er habe nicht vergessen, dass sie ihm früher geholfen hätten. Das habe er ein bisschen zu oft gesagt, sie hätten das übertrieben gefunden.
    »Er hatte sich sehr verändert, markierte den starken Mann, der überall was laufen hat, ein bisschen gefährlich. Sie wissen schon, ein Macho, ein Halbstarker. Dagegen waren wir die kleinen Studenten.«
    Erst danach war das Gespräch interessant geworden.
    Theo und er hätten Ton erzählt, dass sie Vorlesungen über den Zweiten Weltkrieg besuchten und gerade den NSB durchnähmen. Da habe Ton mitkommen, den Professor kennenlernen wollen.
    Bingo!
    Van Drongen: »Ton war ein rastloser Typ, nicht dumm, aber wahrscheinlich Legastheniker und hyperaktiv, wie man das heute nennen würde. Kein Sitzfleisch. Auch uns war Ton ein bisschen zu wild, fürchte ich. Er kam mit in die Vorlesungen. Schrieb sich an der Universität ein. Er meldete sich in den Vorlesungen zwar nie zu Wort, ging aber hinterher immer zum Professor. Da hat er dann oft lebhaft geredet und gestikuliert.«
    Da hatte ich meinen Beweis. Es verschlug mir kurz die Sprache. Dann fragte ich: »Vielleicht hat er ja so etwas wie Absolution gesucht für das, was sein Vater getan hat – Silverstein war doch Jude, nicht?«
    »Tja…«
    Van Drongen räumte ein, dass der Krieg für Ton ein beherrschendes Thema gewesen sei. Sein Zimmer sei regelrecht mit Kriegsbildern tapeziert gewesen, Fotos von Lagern, Fotos von Hitler, vom zerbombten Dresden, von Eichmann, von Fackelzügen mit Hakenkreuzfahnen und was nicht noch alles. Er wich einer Antwort auf meine Frage aus, das war deutlich spürbar.
    Er sagte nur: »Ich glaube, dass Ton seinen Vater hasste, das habe ich aus seinem Zorn und seiner Verbitterung herausgelesen. Aber er konnte auch nicht verstehen, und es machte ihn wütend, dass man ihn so ausgrenzte. Eine schwierige Mischung.«
    »Mochten Sie ihn?«, fragte ich.
    »Manchmal«, sagte van Drongen ausweichend.
    Den meisten habe Ton Angst gemacht. Ihm selbst auch. Ton sei unberechenbar gewesen. Und schon in ihrer Kindheit sei bei ihnen im Ort geredet worden, habe es einen Verdacht gegeben. Da sei dieses Mädchen gewesen, das viele Stunden vermisst war…
    Ich schluckte. Hörte nur zu. Als er fragte, zu welchen Erkenntnissen ich denn gekommen und wie weit meine Untersuchung über die unterschiedlichen Sichtweisen des Krieges gediehen sei, hatte ich schon fast vergessen, welchen

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