Der Sohn (German Edition)
Wagen steige, sortiere ich die Post nach Briefen, Karten, Rechnungen und Sonstigem. Tag für Tag ist vieles davon für Jacob bestimmt, jetzt, da alle mitbekommen haben, was passiert ist. Diesmal auch ein paar Sachen für mich, unter anderem ein mit Kinderhandschrift adressierter Umschlag, den ich gleich öffne.
Es sind Zewas Briefe. Ich bin so froh und überwältigt, sie wiederzuhaben, dass ich sie unwillkürlich an mich drücke. Mir ist klar, dass nur ein Mensch sie mir geschickt haben kann. Der Umschlag trägt den Poststempel von Paris.
Ich weiß jetzt, dass ich Monica nie mehr wiedersehen werde.
107
Jacob muss immer noch große Schmerzen haben. Ich höre ihn schon vom Flur aus wimmern. Als ich eintrete, sagt er gerade zur Krankenschwester, dass er das Gefühl habe zu versteinern. »Ohne Gang kein Stuhlgang«, erwidert die Schwester. »Sie müssen sich ein bisschen bewegen, das hilft garantiert.« Sie reicht ihm eine Tablette. Ich warte im Stehen. Jacob war nie der Einfachste, wenn er krank war.
»Gibt es etwas Neues?«, fragt er.
Es scheint ihm besserzugehen – und der Arzt hat mir endlich erlaubt, mit ihm zu reden.
Er hat immer noch Drains, die seine Schusswunden sauber halten. Dieser Beutel, in dem die Wundabsonderungen aufgefangen werden, sieht grässlich aus, aber insgesamt hat er doch schon weniger Brimborium am Körper, nur noch eine Infusion und die Sauerstoffzufuhr. Auf einem Monitor wird sein Herzschlag aufgezeichnet. Sein Gesicht verrät erstaunlicherweise kein Selbstmitleid. Es ist zwar schmerzverzerrt, vor allem die Augen, doch ich lese auch zum ersten Mal, und das bestürzt mich, eine verzweifelte Wut darin. Die Wut frisst Jacob auf, wird mir bewusst.
Sofort bin ich wieder bei der Sache. Bevor ich hereinkam, hatte ich mir vorgenommen, Jacob all das, was ich mir überlegt und womit ich mich in den letzten vierundzwanzig Stunden so intensiv beschäftigt habe, aus Rücksicht auf seinen Zustand nur in behutsamen kleinen Häppchen anzuvertrauen. Aber jetzt sehe ich, dass er nach Informationen, nach Taten lechzt und Vorsicht ihn verrückt machen würde.
Daher erzähle ich ihm gleich das Neueste. Von David, und dass Monica mitsamt ihrem Sohn auf und davon ist. Ich zeige ihm auch die Briefe – den Umschlag.
Ich bin mir unschlüssig, ob ich fortfahren soll. Das Wichtigste habe ich ja noch verschwiegen.
Jacobs Atmung hat sich stark beschleunigt – auf dem Monitor erscheinen bedenkliche Kurvenausschläge. Doch Monicas Verrat erschüttert ihn weniger, als ich gedacht hätte.
»Natürlich«, sagt er. »Das hatte ich mir längst gedacht. Kein Einbruch: Logisch, dass sie damit zu tun hatte. Wer sonst? Mag sein, dass sie nichts davon wusste, aber der Schlüssel lag bei ihr zu Hause, frei zugänglich. Wie oft habe ich nicht schon gesagt, dass wir nicht jedem Hans und Franz einen Schlüssel geben sollten!«
Als er mein Gesicht sieht, dämpft er seine Stimme wieder: »Schon gut. Es ist auch meine Schuld, Saar.«
Das ist ein anderer Jacob, denke ich.
»Und sonst?«, fragt er. »Sonst nichts? Was ist mit dem zweiten Mann? Wer ist das? Wo ist der? Und unsere Sachen? Je länger sich das Ganze hinzieht, desto schwerer lassen sie sich noch auftreiben. Verkauft an Hehler, wer weiß, wo. Was sind denn das für Deppen bei der Polizei, es gibt doch Spuren, Haare, Hautschüppchen und so was, und sie haben unsere Handys! Jeder Tag zählt!«
Erschöpft fällt er aufs Kissen zurück.
»Und Tess, wie geht es Tess?«, flüstert er.
Ich sage, es gehe.
»Hast du Mitch schon erreicht? Was hast du ihm gesagt?«
»Dass du Gallensteine hast und operiert werden musst«, sage ich. »Dass du deshalb nicht zu seiner Graduation kommen kannst.«
Jacobs Miene verfinstert sich. Er weint, hört nicht mehr zu. Ich kann das nur schwer mit ansehen.
Er hat abgenommen. Trägt einen Dreitagebart. In seinem Gesicht ist wieder etwas von früher. Ich streichle seine Wange.
Er schließt die Augen, treibt weg.
»Bis heute Abend«, sage ich.
Ich beschließe, mir Ton Raaijmakers für den nächsten Besuch aufzuheben. Jacob fehlt mir sehr.
108
Als ich zurückfahre, hat sich der Wind gelegt, und eine kalte Sonne lässt alles aufleuchten. Das hat wahrhaftig etwas von Frühling. Der erste Frühling ohne meinen Vater. Wir rücken nun also wirklich ohne ihn voran. Er bleibt im Herbst, im Winter zurück, ein für alle Mal. Alles bricht zusammen ohne ihn, denke ich, ist das nicht offensichtlich? Ich denke an Mitch. Er ist so weit weg,
Weitere Kostenlose Bücher