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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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Vorwand ich mir ausgedacht hatte.
    »Professor Silverstein war ein Überlebender, wie Sie wissen«, sagte ich. »Für ihn war der Krieg keine überlieferte Geschichte, sondern Realität, und daher dachte er sehr stark in Kategorien von Schwarz und Weiß. Das ist inzwischen nicht mehr angesagt, wie Sie vielleicht auch schon festgestellt haben werden. Heute ist Grau in. Das Modell ›Jeder war ein bisschen schuldig‹.«
    Van Drongen bemerkte dazu, dass sich Silverstein aber immer sehr nuanciert ausgedrückt habe.
    »Wenn er einmal in Schwarz und Weiß dachte, gab es in den Vorlesungen immer lauten Protest – nicht weil wir anders dachten als er, sondern weil wir lieber diskutierten und kritisierten, als wirklich in die Tiefe zu gehen. Das waren damals schließlich die siebziger Jahre, das darf man nicht vergessen. Alles musste umgekrempelt werden. Alle waren links. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass wir es so interessant fanden – ›cool‹ würde man das heute nennen –, jemanden wie Ton zum Freund zu haben, jemanden aus einer kleinbürgerlichen Nazifamilie. Und dass Silverstein mit ihm redete, fanden alle klasse.«
    Freundlich, aber reserviert, nannte van Drongen meinen Vater. Er habe allerdings den Eindruck gehabt, dass Professor Silverstein Ton allmählich immer mehr auf Abstand gehalten habe, dass ihm das ein bisschen zu viel geworden sei mit ihm. Obwohl er freundlich geblieben sei.
    »Ich denke, ihm war sofort klar, wo Ton der Schuh drückte. Ton wusste nicht genau, was er wissen wollte – aber schon, was er hören wollte.«
    Ich fragte: »Was wollte er denn hören?«
    Van Drongen: »Dass es bloßer Zufall war, dass sein Vater sich für ›die falsche Seite‹ entschieden hatte, natürlich. Dass sein Vater weniger Schuld trug, als er es ihn mit seinen Stockschlägen immer fühlen ließ. Was sein Vater sonst noch alles verbrochen hat, weiß ich nicht, aber die Jahre im Knast wird er wohl nicht für nichts abgesessen haben.«
    Ich nickte. So beiläufig ich konnte, sagte ich, dass ich schon nachvollziehen könne, wenn Professor Silverstein für den Vater von Ton Raaijmakers wenig Sympathie oder Verständnis habe aufbringen können.
    »Heutzutage erwartet man von Historikern einen vollkommen neutralen Blick«, entgegnete der Sozialkundelehrer.
    »Glauben Sie, das ist möglich?«, sagte ich. »Können solche Themen denn jemals so abstrakt werden, so enthoben von ihrem Ursprung und Kern, die ja doch vor allem mit Moral, oder besser gesagt Amoral, zu tun haben, dass Wissenschaftler völlig wertfrei darüber reden und denken können – sogar über den Holocaust?«
    Van Drongen: »Ich glaube, für die heutige Generation ist der Holocaust einfach viel weiter entfernt als für mich und meine Generation, und dabei haben meine Eltern den Krieg noch relativ unbeschadet überlebt, im ländlichen Groningen.«
    Ton sei nicht symptomatisch für irgendetwas, sagte er. Er betrachte ihn eher als »ungelenktes Projektil«, auf jedermann wütend. Als Professor Silverstein ihm am Ende des Jahres wegen ungenügender Leistungen den Schein habe verweigern müssen, sei es mit seiner Sympathie und seinen guten Vorsätzen definitiv vorbei gewesen.
    »Ton hörte auf zu studieren, trank viel und verkehrte mit obskuren Freunden. Wir haben ihn dann schon bald nicht mehr getroffen«, erzählte van Drongen.
    Ich fragte, ob er Ton später noch gesehen habe. Das verneinte er. Ich vermutete, dass etwas vorgefallen war, wovon er mir nichts erzählen wollte.
    Es ging mich zum Glück auch nichts an.
    106
     
    Meine Mutter kann am nächsten Morgen nicht umhin, einen etwas unglücklichen Blick auf mich zu werfen, weil ich immer häufiger im Zimmer meines Vaters hocke. Ich muss in mein eigenes Haus zurück, sage ich mir, aber noch geht das nicht. Die von der Spurensuche haben immer noch dort zu tun.
    Draußen kommt ein Frühjahrssturm auf, und ich sehe, wie die Blütenknospen und hellgrünen Blätter am Kastanienbaum im Garten meiner Mutter dem starken Luftstrom standzuhalten versuchen, der sie zaust und an ihnen zerrt, aber allem Anschein nach nicht brechen kann.
    Ich statte meinem eigenen Haus einen Besuch ab, als wäre ich eine Fremde. Immer noch die rot-weißen Plastikbänder rund um unser Grundstück. Das Polizeiaufgebot hat schon Feierabend gemacht, wird aber morgen wiederkommen, soweit ich verstanden habe.
    Ich nehme die Post mit, das ist so ungefähr das Einzige, was man mir gestattet, und fahre ins Krankenhaus weiter. Bevor ich aus dem

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