Der Sokrates-Club
werden, um eine analoge Katastrophe wie die 9/11 zu verhindern. Das Argument der Verfassungsrichter war, dass damit der unbedingte Würdeschutz, den das Grundgesetz garantiert, verletzt wäre. Die Passagiere würden zum bloßen Mittel für einen Zweck. Auch wenn dieser Zweck darin besteht, Tausende von Menschenleben zu retten, ist diese Tat unzulässig, weil sie die Würde der einzelnen, unschuldigen Passagiere verletzt. Hier ging es nicht um die Abwägung von Leben gegen Leben, sondern um die absolute Geltung des Würdeschutzes. Man muss sich dieser Verfassungsinterpretation nicht anschließen, selbst wenn man sich ihr anschließt, bleibt es unbenommen, der Auffassung zu sein, dass die moralischen Konsequenzen inakzeptabel seien. Aber es wird vermutlich unumstritten sein, dass wir eine moralische Pflicht haben, respektvoll mit anderen umzugehen, ihre Autonomie als Akteure zu wahren und sie in ihrer Selbstachtung nicht zu schädigen.
»Und eigentlich ist es doch ihre Freundin, und man darf doch spielen, mit wem man will!«
Rechte
Rechte, die andere haben, erlegen uns Pflichten auf. Wenn A ein Recht auf X hat, dann hat B eine Pflicht, nichts zu tun, was A daran hindern könnte, X zu haben. Wenn junge Menschen das Recht haben, selbst zu bestimmen, wen sie heiraten wollen, dann haben alle anderen die Pflicht, von Handlungen abzusehen, die eine solche freie Entscheidung unmöglich machen. Zwangsheirat ist rechtlich und moralisch unzulässig. Aber auch Handlungen, die indirekt dazu führen, dass die Freiheit der Entscheidung eingeschränkt ist, sind moralisch problematisch. Mütter, die unliebsamen potenziellen Schwiegersöhnen von negativen Seiten ihrer Tochter berichten, um diese davon abzuhalten, sie zu ehelichen, intervenieren in die freie Lebensgestaltung, in das Recht auf freie Partnerwahl, auch wenn diese Intervention nur indirekt ist und möglicherweise unwirksam bleibt. Eltern, die Kindern mit empfindlichem Übel drohen, um diese von der Ehe mit unliebsamen Partnern abzuhalten, verletzen die individuelle Würde, die Freiheit der eigenen Lebensgestaltung, das Recht auf freie Partnerwahl des Kindes. Die Rechte des einen schränken die zulässigen Handlungen des anderen ein. Libertäre Denker versuchen die gesamte Ethik auf dieses Prinzip zu beschränken: Alle menschlichen Individuen haben– angeborene– Rechte, wie Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und rechtmäßig erworbenes Eigentum, alle übrigen moralischen Regeln seien auf diese Menschenrechte zurückzuführen. Man muss sich dieser Auffassung nicht anschließen, viel spricht dagegen, dass ausschließlich individuelle Rechte moralische Pflichten generieren, aber unbestreitbar ist, dass individuelle Rechte eine wichtige Rolle für unser Handeln spielen.
Hier gibt es einen offenkundigen Zusammenhang mit dem Aspekt der Autonomie, der für alle Individuen gleichen Freiheit. Individualrechte schützen die Autonomie des Einzelnen, sie stellen sicher, dass der Einzelne seine Vorstellungen vom eigenen Leben verwirklichen kann, ohne befürchten zu müssen, dass andere intervenieren. In einer Kultur, die die individuelle Autonomie hoch schätzt und deren Erziehungsmethoden sich an dieser zunehmend ausrichten, spielt der Respekt gegenüber den Rechten anderer eine zentrale Rolle. Eine Gesellschaft, die die Rechte der einzelnen Person unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe respektiert, ermöglicht eine Selbstbestimmung, die autonome Praxis, der Individuen. Individualrechte schützen die Autonomie des Einzelnen.
Eine Frau, die sich freiwillig ans Sofa kettet, nur um abzunehmen, muss vor sich selbst beschützt werden.
Freiwillige Selbsteinschränkung der Freiheit
E ine schwierige Frage ist, ob es moralisch zulässig ist, durch freie Entscheidung die eigene Autonomie einzuschränken. Ein klassisches Beispiel hierzu: Eine junge Frau, die ihren Beruf aufgibt und sich ökonomisch in die Abhängigkeit von ihrem Ehemann begibt, wohl wissend, dass sie nach vielen Jahren ohne Berufstätigkeit jedenfalls nicht auf demselben Niveau die Karriere fortsetzen können wird, ja möglicherweise sogar annehmen muss, dass sie nie mehr die Chance haben wird, ökonomisch selbstständig zu sein, verzichtet auf einen Teil ihrer Autonomie. Das kann ihr niemand verbieten.
Es wäre heute jedoch rechtlich unwirksam, sich als Schuldner zum Leibeigenen des Kreditgebers machen zu müssen, um die ausbleibende Tilgung auszugleichen, wie es jahrhundertelang
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