Der Sokrates-Club
nimmt ihr die mitgenommenen Zigaretten weg, um sie zu zwingen, mit dem Rauchen aufzuhören. Wenn dies nicht die ausdrückliche Zustimmung der Raucherin findet, ist dies offenkundig moralisch unzulässig. Eine erwachsene Person entscheidet selbst über das, was sie tut, andere dürfen sie nicht zwingen. In diesem Fall wäre der Zwang, mit dem Rauchen aufzuhören, für die Raucherin ein Vorteil und kein Schaden. Ja, wir haben sogar angenommen, dass die Raucherin weiß, dass es für sie von Vorteil wäre. In diesem Sinne würde die Intervention, die den Rauchverzicht erzwingt, die Interessen der Raucherin nicht schädigen. Die Unzulässigkeit ergibt sich allein aufgrund des entgegenstehenden Willens der Raucherin. Es sind hier nicht mehr ihre Interessen, die hier ausschlaggebend sind, sondern allein ihr Anspruch, autonom zu handeln, Autorin ihres Lebens zu sein und zu bleiben.
Diese Aufzählung von Gründen, die dagegen sprechen, dass wir alles tun dürfen, was wir wollen, ist aber keineswegs vollständig und in den Details umstritten. Umstritten ist zum Beispiel, ob das Eigeninteresse uns tatsächlich Pflichten auferlegt. Gibt es das, was Immanuel Kant » Pflichten gegen sich selbst« genannt hat? In Deutschland war noch bis vor wenigen Jahrzehnten der versuchte Suizid strafbar. Der Ausdruck » Selbstmord« suggeriert, dass es zwei Arten von Morden gibt: die an anderen, also eine Tötung anderer Personen, heimtückisch und aus niederen Beweggründen, und die eigene Tötung. Diese Gleichsetzung aber ist hochproblematisch. Wenn jemand mit seiner Tötung einverstanden ist, dann handelt es sich in der Regel nicht mehr um Mord, in manchen Fällen handelt es sich dann lediglich um » Tötung auf Verlangen«. Im Falle der Selbsttötung muss man das Einverständnis des Getöteten voraussetzen.
Wenn ein Suizid bzw. ein versuchter Suizid nicht mehr strafbar ist, ist er dann noch unmoralisch? Niemand macht sich strafbar, wenn er sich zum Beispiel zu Tode trinkt. Angehörige werden dennoch sagen, » Das solltest du nicht tun!«, » Hör mit dem Trinken auf!« etc. Aber die Tatsachen, dass Selbstschädigungen dieser Art nicht strafbar sind, bringt die hohe Wertschätzung zum Ausdruck, die unsere Gesellschaft und Kultur menschlicher Autonomie und Autarkie entgegenbringt. Dieser Wert der Selbstbestimmung wird so hoch geschätzt, dass negative Folgen, wie zum Beispiel selbstzerstörerisches Handeln, in Kauf genommen werden. Allerdings muss man hinzufügen, dass das Rechtssystem hier keineswegs kohärent ist. Die Anschnallpflicht im Auto gilt auch für diejenigen, die unangeschnallt niemanden gefährden. Die Verletzung der Anschnallpflicht ist in letzter Konsequenz ein Straftatbestand. Es spricht manches dafür, dass zurechnungsfähige Erwachsene keine Verpflichtung haben, sich nicht selbst zu schädigen. Allerdings haben fast alle Menschen Verpflichtungen gegen andere, und diese werden in vielen Fällen durch Selbstschädigung verletzt. Eltern haben Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern. Wenn sie sich selbst schädigen, zum Beispiel durch Alkoholismus, dann schädigen sie ihre Kinder und verletzen ihre Fürsorgepflicht.
Wir dürfen nicht alles, was wir wollen, weil wir die Autonomie anderer beachten müssen, weil wir anderen mit Respekt begegnen und als Autoren ihres eigenen Lebens anerkennen sollten. In der kantischen Ethik wird dies zum Zentrum der gesamten praktischen Philosophie. Die Fähigkeit autonom, nach selbst gesetzten Regeln zu handeln, macht die menschliche Vernunft aus und unterscheidet ein autonomes Handeln von einem heteronomen, nämlich einem solchen, das lediglich von Neigungen getrieben ist. Diese Autonomiefähigkeit macht die besondere menschliche Würde aus. Sie zu respektieren ist die oberste Norm der deutschen Rechtsordnung: » Die Würde des Menschen ist unantastbar« (Grundgesetz Artikel1,Abs.1). Dieses Gebot ist so strikt zu interpretieren, dass auch dann die Verletzung der menschlichen Würde, der Würde eines einzelnen Menschen, unzulässig ist, wenn damit andere Würdeverletzungen in großer Zahl unterbunden würden. Es ist unzulässig, eine unschuldige Person zu bestrafen, um durch diese Bestrafung andere davon abzuhalten, Menschen in ihrer Würde zu verletzen. Das Bundesverfassungsgericht hat das vom deutschen Bundestag beschlossene Luftsicherheitsgesetz als verfassungswidrig verworfen, weil es zugelassen hätte, dass die unschuldigen Passagiere einer Verkehrsmaschine durch einen Abschuss getötet
Weitere Kostenlose Bücher