Der Sokrates-Club
Straftaten und der Vermeidung menschlichen Leids wäre. Niemand wird befürworten, um ein anderes, viel diskutiertes Beispiel zu bringen, dass ein verunglückter Motorradfahrer, der in eine Klinik eingeliefert wird, nicht behandelt wird, um die Organe nach seinem Ableben für Schwerkranke nutzen zu können. Etwas allgemeiner ausgedrückt heißt das, dass niemand von uns die individuellen Rechte zur Disposition stellt, um das allgemeine Wohl zu maximieren.
Weit besser steht es um den berühmten kategorischen Imperativ der zweiten Prinzipien-Ethik, nämlich der von Immanuel Kant. Hier werden die Maximen einem Test unterworfen, nämlich ob sie als allgemeine Verhaltensregel tauglich sind. Wenn eine Maxime diesen Test nicht besteht, dann ist ein Handeln nach dieser Maxime moralisch unzulässig. Aber auch dieses Prinzip hat merkwürdige Folgerungen. Zum Beispiel spricht manches dafür, dass Lügen in Folge unter allen Bedingungen verboten wäre. Jedenfalls war Kant selbst dieser Auffassung. Denn wenn man die jeweilige Situation, für die eine Lüge zulässig zu sein scheint, allgemein charakterisiert, dann ergibt sich eine Art Selbstwiderspruch. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich immer dann lügen darf, wenn damit großes Leid oder eine massive Rechtsverletzung einzelner Personen vermieden wird, etwa im Falle einer unschuldig verfolgten Person, die ich durch eine Lüge vor ihren Verfolgern rette, dann lässt sich diese Maxime nicht verallgemeinern. Wenn die Regel ist, dass alle Menschen in solchen Situationen die Unwahrheit sagen, wenn dies zur allgemeinen Handlungsregel wird, dann wird niemand in solchen Situationen einer Person Glauben schenken, sodass Lügen, im strengen Sinne, gar nicht mehr möglich ist. A belügt B nur dann, wenn A annehmen kann, dass B das glaubt, was er sagt, und A weiß, dass das, was er sagt, falsch ist. Wenn A weiß, dass B das, was er behauptet, ohnehin nicht glaubt, dann handelt es sich nicht um eine Lüge. Der Schauspieler auf der Bühne, der sagt: » Ich bin König Lear«, lügt nicht.
Der kantische kategorische Imperativ ist als Prinzip der Moral jedoch in hohem Maße unvollständig. So ist es zwar jeweils denkbar und wünschbar, dass alle im Straßenverkehr jeweils rechts fahren, genauso wie es jeweils denkbar und wünschbar ist, dass alle jeweils links fahren bei Linksverkehr, dennoch ist das Linksfahren und das Rechtsfahren nicht gleichermaßen erlaubt, ausschlaggebend dafür sind die allgemeine Praxis und die Gefährdungen, die mit einer Abweichung von der allgemeinen Praxis einhergingen. Dieser Formalismus des kantischen Typs der Prinzipien-Ethik wurde schon zu Kants Lebzeiten von Hegel und vielen anderen kritisiert. Die Zurückführung aller Moralität auf ein Prinzip scheint auch in dieser Gestalt nicht aussichtsreich.
Aber auch dann, wenn die Prinzipien-Ethik in dem Sinne scheitert, dass die Zurückführung aller Moralität auf ein Prinzip nicht überzeugt, spielen bestimmte allgemeine Regeln für unsere moralischen Urteile eine zentrale Rolle. Eine dieser Regeln ist die der Gleichbehandlung und der gleichen Würde. Das Verbot von Diskriminierung ist nicht nur für die Gesetzgebung und die Rechtssprechung zentral, sondern auch für unsere alltägliche Praxis.
Eine Gesellschaft, in der die Menschen im Bus den Sitzplatz wechseln, wenn sich jemand mit anderer Hautfarbe neben sie setzt, ist inhuman, verletzt das moralische Gebot gleichen Respekts und gleicher Würde. Seit der Entdeckung menschlicher Gleichheit in der frühen Neuzeit, mit Vorläufern in der antiken Stoa und in anderen Kulturkreisen wie etwa dem Buddhismus, wurde das Verbot der Diskriminierung immer weiter konkretisiert. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Diskriminierung aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, aufgrund der Religion, aufgrund der Hautfarbe, der Herkunft etc. ist rechtlich unzulässig und in der lebensweltlichen Praxis moralisch falsch. Aber darf man nach Alter diskriminieren? Die jüngste Entwicklung ist die zunehmende Anerkennung, dass auch » Ageism«, also die Diskriminierung aufgrund des Alters, unzulässig ist. Die ökonomische, aber auch die lebensweltliche Praxis verletzt dieses Antidiskriminierungsgebot häufig. Dies war aber auch in der Nachkriegszeit so, als zwar die Gleichberechtigung von Mann und Frau zur Verfassungsnorm geworden war, aber das Familienrecht Frauen untersagte, berufstätig zu werden, wenn der Mann damit nicht einverstanden war, ja sogar Rechtsgeschäfte zu
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