Der Sokrates-Club
Tatsache, dass heute ein sehr weitgehender globaler Konsens– zumindest auf der Ebene politischer Klärungen– hinsichtlich eines umfassenden Korpus von Menschenrechten besteht, hat auch damit zu tun, dass es in den meisten normativen und kulturellen Traditionen inhaltliche Anknüpfungspunkte gibt, sodass man von einem humanistischen Ethos sprechen kann, das zwar im europäischen Humanismus der Renaissance und der Aufklärung einen besonders prägnanten Ausdruck findet, das aber Übereinstimmungen und Schnittstellen mit außereuropäischen Anthropologien und Moralkonzeptionen aufweist.
»Oder wenn man andere respektiert, auch wenn sie anders aussehen oder so.«
Freiheit und Verantwortung
Es war der Stoa vorbehalten, eine Entdeckung zu machen, die für ein humanistisches Menschenbild zentral ist: Menschen sind gleich, es ist unerheblich, welcher Ethnie, welcher Polis, welcher Sprachgemeinschaft, welcher Religion sie angehören. Sie alle haben gleichermaßen einen Zugang zum Logos und sind gleichermaßen in der Lage, vernünftig ( homologoumenos ), also im Einklang mit einer nach Gesetzen geordneten Natur, zu leben. Jeder Mensch kann unterscheiden zwischen dem, was er mit seinem Handeln kontrolliert, und dem, welchem er ohne Einflussmöglichkeiten ausgesetzt ist ( adiáphora ). Für das, was er kontrolliert ( eph’ hêmin ), trägt er eine Verantwortung, die ihm niemand abnehmen kann. Dies macht die besondere menschliche Würde, die dignitas humana, wie der Terminus schon in der römischen Stoa lautet, aus.
Nicht nur bei Platon und der griechischen und römischen Stoa steht die Eigenverantwortlichkeit genuin menschlicher Existenz im Mittelpunkt. Als Lebewesen, die Gründen zugänglich sind, die nach Gründen urteilen und nach Gründen handeln, sind wir verantwortlich gegenüber anderen und gegenüber uns selbst. Es ist die Fähigkeit, Gründe abzuwägen und nach Gründen zu handeln und zu urteilen, die uns frei macht. Die Gleichheit des Menschen besteht in der grundsätzlich gleichen Fähigkeit, sich von Gründen affizieren zu lassen, ein Leben aus eigener Verantwortung zu leben.
In der wechselseitigen Anerkennung dieser Fähigkeit gründet sich ein spezifischer Respekt, den wir einander schulden. Wir schreiben einander eine spezifische– menschliche– Würde zu. Unsere Selbstachtung beruht auf der Fähigkeit, nach Gründen zu handeln, und der geschuldete Respekt äußert sich darin, dass wir diese Selbstachtung unter keinen Bedingungen verletzen (Art. 1 GG : Die Würde des Menschen ist unantastbar). Die spezifische menschliche Freiheit ist nicht Freiheit aus Willkür, sondern Freiheit, die von Gründen geleitet ist. Freiheit ist also nicht lediglich Autarkie, sondern Autonomie, die Fähigkeit, nach selbst gewählten Regeln, das, was Kant » Maximen« nannte, zu handeln.
Humanismus in der politischen Theorie
Die humanistischen Postulate– menschliche Gleichheit als gleiche Würde, gleicher Respekt, gleiche Freiheit, gleiche Verantwortlichkeit– haben politische Implikationen. Es gibt keine natürliche Ordnung des Oben und Unten. Niemand ist von Natur oder Gott zum Herrschen bestimmt, es gibt keine natürliche Hierarchie, keine ständische Ordnung im Einklang mit der natürlichen oder göttlichen Ordnung. Im 17. und 18. Jahrhundert werden diese Postulate zur Grundlage politischer Theorien, die sich gegen die alte feudale Ordnung wenden, die Legitimation von Macht nicht an die Geburt, sondern an die rationale Übereinkunft, die Zustimmung aller binden.
Für Thomas Hobbes geht es um die Etablierung einer Friedensordnung durch ein staatliches Gewaltmonopol, in der Verträge eingehalten werden und die Menschen vor ungesetzlicher Gewalt keine Furcht mehr haben müssen und friedlich ihren Geschäften nachgehen können. John Locke ersetzt die paternalistische Gewalt des Fürsten durch den Rechtsstaat, der die natürlichen Rechte jedes einzelnen Menschen auf Leben, körperliche Unversehrtheit und legitim erworbenes Eigentum sichert. Jean-Jacques Rousseau will die ursprüngliche Freiheit jedes Menschen in der Republik als sittliche Körperschaft wiederherstellen. Immanuel Kant hingegen will die Gesetzgebung an die allgemeine rationale Zustimmungsfähigkeit binden und ein globales Friedensbündnis der Republiken etablieren.
Bei allen Verästelungen humanistischen Denkens in Europa, (vor allem bedingt durch die ambivalente Rolle des Christentums, das einerseits die wichtigsten Inhalte sokratischer Anthropologie und
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