Der Sokrates-Club
Werthaltungen und Verbindungsformen.
Es scheint mir nicht utopisch zu sein, zu hoffen, dass eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung der individuellen Autonomie und Selbstverantwortung das Fundament für eine globale Zivilgesellschaft der Zukunft bereitet, die einem humanistischen Menschenbild verpflichtet ist.
7. Identität oder: Kann ein böser Mensch entscheiden, ab heute ein guter zu sein?
Heute führen wir ein philosophisches Gespräch bei uns zu Hause. Mit von der Partie sind unsere Tochter Juliette sowie ihre Freundin Lilly, der dreizehnjährige Paul, der achtjährige Michael und der neunjährige David. Sie sitzen auf der Couch und trinken Apfelsaft. David hat ein » FC Bayern«-T-Shirt an, Paul blickt mit ernster Miene auf sein Apfelsaftglas, und Juliette kommt sich ein bisschen komisch vor, weil ihr Papa jetzt nicht mehr nur Papa, sondern auch so etwas wie ein Lehrer ist.
Wie ist das eigentlich mit euch? Habt ihr euch in eurem Leben einmal so richtig verändert?
» Ich hatte letztes Jahr lange Haare!«, prescht Michael vor. » Bis da hin!«, sagt er und zeigt stolz auf seine Schultern.
Ist es wichtig, wie lang die Haare sind?
Die Kinder überlegen.
Dann sagt Juliette ganz leise: » Man hat doch immer die gleiche Seele, oder nicht? Ich meine in einem drin, da ist doch was, was immer gleich bleibt, oder?« (Mehr wissen)
» Also ich bin jetzt schon anders«, erklärt Lilly. » Ich kann jetzt die Uhr lesen, meinen Namen schreiben, und manchmal darf ich sogar Cola trinken. Als ich ein Baby war, bin ich immer nur so rumgelegen. Wie meine kleine Schwester jetzt.« (Mehr wissen)
Juliette schüttelt den Kopf. » Ja, aber man ist doch immer man selbst. Man kann doch gar nicht anders, als man selbst sein.«
» Aber als ich ein Baby war, da durfte ich zum Beispiel noch nicht Hockey spielen. Jetzt darf ich das schon, weil ich mehr weiß und vernünftig bin. Das heißt doch, dass ich jetzt anders bin, oder?«, sagt Lilly.
» Das ist ungerecht«, sagt Juliette, » die kleinen Babys machen immer Quatsch. Die schimpft niemand. Wenn ich mich mit meiner kleinen Schwester streite, und dann weint sie plötzlich, dann werde immer nur ich geschimpft.«
Wenn ein Kind von einem Jahr eine Vase kaputt macht, hat es dann Sinn, das Kind zu schimpfen?
» Ja, schon«, sagt Adrian, » weil es sonst nicht lernt, dass es keine Vasen runterwerfen darf.«
» Aber es ist doch nicht seine Schuld!«, meint Juliette empört. »Es weiß doch nicht, dass es die Vase nicht runterwerfen darf.«
Seid ihr denn für alles verantwortlich, was ihr macht?
» Hm, ich glaub schon. Wenn ich weiß, dass ich keine Vasen runterwerfen darf, und es dann trotzdem mache, bin ich schon verantwortlich.«
» Ich mag eh keine Blumen in Vasen stecken«, sagt Lilly und zupft an ihrem T-Shirt, auf dem ein Totenkopf prangt.
Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte, aber eine wahre. Es gab mal einen Mann in Amerika. Der hieß Phineas Gage. Er baute an Zuggleisen. Eines Tages hatte er einen schweren Unfall, bei dem sein Gehirn verletzt wurde, und zwar das sogenannte Frontalhirn, das ungefähr unter der Stirn liegt. Er galt bis zu seinem Unfall als verlässlich, verantwortungsvoll und sorgfältig. Trotz dieses schweren Unfalls war Phineas nach einigen Monaten wieder weitgehend hergestellt. Er konnte denken und sprechen– alles war wie vorher. Seine Verwandten und Freunde aber bemerkten, dass er irgendwie anders geworden war. Früher konnte man sich immer auf ihn verlassen. Seit dem Unfall aber war das anders geworden. Fing er mit einer Sache an, hörte er gleich wieder damit auf. Er änderte andauernd seine Meinung und konnte überhaupt nichts mehr planen. Was meint ihr: Ist Phineas immer noch derselbe Mensch?
Adrian überlegt: » Also, wenn er immer noch dieselben Sachen mag wie vorher, dann ist das immer noch der gleiche Mensch.«
» Aber wenn er alles wieder lernen muss, dann lernt er ja neue Sachen, und dann ist er nicht mehr der gleiche.«
Juliette sieht kritisch ihren Apfelsaft an. Dann sagt sie entschieden: » Halbe, halbe.«
Die Kinder schweigen.
Was ist eigentlich eure erste, eure früheste Erinnerung?
» Ich war im Kindergarten auf einer Schaukel mit meiner Freundin Paula, und wir haben Kichererbsen gespielt. Das war schön«, sagt Juliette. Dann fügt sie noch leise hinzu: » Aber jetzt spielt sie lieber mit der Lilly.«
» Und ich hab mit zwei Jahren eine Schatzkiste gebaut. Das weiß ich noch, weil da der Papa noch bei uns gewohnt
Weitere Kostenlose Bücher