Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
Vom Netzwerk:
und stürze. Der Soldat bricht in lautes Gelächter aus und gesellt sich dann zu den anderen.
    In diesem Moment befreit sich Gabriele aus meiner Umklammerung. »Bleib hier!«, sagt er.
    »Nicht!«, rufe ich, aber Gabriele ist schon losgerannt. Er überholt die Soldaten, geht ihnen voraus. Unser Vater sieht ihn. »Was willst du hier? Geh!« Er reißt die Augen auf. »Um Himmels willen, geh!« Gabriele hört nicht auf ihn. Mit einer Hand zerrt er am Saum der Jacke meines Vaters, mit der anderen bietet er die Stange Zigaretten erst dem einen und dann dem anderen Soldaten an. Beide haben ihre Helme leicht nach hinten geschoben. Er sieht ihre Augen, die von der Kälte geröteten Wangen, die kurz rasierten Haare. Sie sind unglaublich jung und machen ihm keine Angst mehr. Einer der beiden hat eine aufgeplatzte Unterlippe, er wirkt müde, unendlich müde. Gabriele bietet ihm die Zigaretten an, als wären sie ein Geschenk und kein Tauschgeschäft. Der Soldat mit der geplatzten Unterlippe sieht sich erst verstohlen nach seinem Gefährten und dann nach den Befehlshabern der Truppe um. Schließlich reißt er ihm die Zigaretten aus der Hand, und kurz vor einer Wegbiegung stößt er unseren Vater in die Brombeerbüsche. Die Brombeerbüsche bedeckt eine Eisschicht, und wenn die Zeit reif ist, werden sie nur so strotzen vor Beeren. Unser Vater steht wieder auf. Wir helfen ihm, die Handfesseln zu lösen. Wortlos und ohne uns zu umarmen, nehmen wir die Dorfstraße.
    *
    Unser Vater geht einen Monat lang nicht mehr vor die Tür, nachts zittert er. Großmutter zieht sich ohne ihr Hörrohr immer mehr zurück. »Worte sind der Brennstoff des Lebens«, sagt sie. »Wenn sie fehlen, wissen wir nicht mehr, was wir verbrennen, woraus wir Energie gewinnen sollen.« Deshalb verlischt Großmutter immer mehr. Sie findet keine brennbaren Laute mehr, weder in sich selbst noch außerhalb. Um ihr zu helfen, versuche ich, Worte in Asche und Schnee zu zeichnen, schließlich bringen mir Gabriele und unsere Mutter gerade das Schreiben bei. Ich schreibe ihren und unsere Namen. Den Namen der Stadt, in der sie gelebt hat. Den Namen der Tiere und Pflanzen, die in der Savanne leben. Die habe ich aus einem Buch, das Iole mir geliehen hat. Den Namen sämtlicher Gegenstände im Haus. Aber das genügt nicht. Eines Nachts stirbt die Großmutter, während wir neben ihr schlafen. Wir begraben sie auf dem Dorffriedhof, auf dem christlichen über der Kirche. Einen Grabstein errichten wir nicht, weil wir ihren Namen nicht darin einmeißeln können.
    Im Frühling hört unser Vater auf zu zittern. Wenn er nicht unterwegs ist, um Steine zu klopfen, Gräben auszuheben oder Ioles und Marias Mutter zu helfen, macht er sich an einem Detektorradio zu schaffen. Er versucht, es auf die Frequenz von Radio Londra einzustellen. Als eine Stimme aus dem Radio dringt, nehmen Gabriele und ich neben ihm Platz.
    Manchmal haben wir schlechten Empfang. Das liegt an den Stanniolpapierstreifen, die die Flugzeuge abwerfen, um das Radar zu stören, so unser Vater.
    Wenn das Radio nur Rauschen und Explosionsgeräusche von sich gibt, rennen Iole und ich bis zum Monticello, von dem aus man die Ebene im Norden überblicken kann. Aber meist ist dort nichts zu sehen. Bis das Radio eines Tages das übliche Rauschen von sich gibt und ich hinauslaufe, um sie zu rufen. Ich werfe ein Steinchen an ihre Scheibe. Sie klettert aus dem Fenster. Wir steigen bergan, erreichen den Gipfel, und siehe da: Der Mond steht am Himmel, und der Himmel füllt sich mit Funken, die wie Feuerwerkskörper zur Erde hinabstürzen. Es sind Feuerquallen aus Licht. Sie fallen in die Macchia, auf die Felder und Höfe. Auf die Asche der Lagerfeuer und Flüsse, auf unser vorläufiges Dasein.
    Iole und ich setzen uns ins Gras und bleiben lange stumm. Dann steht sie auf und sagt: »Ich muss jetzt gehen, wenn meine Mutter merkt, dass ich weg bin, bekomme ich Ärger.«
    »Erzähl Maria nichts davon!«, bitte ich sie.
    »Warum nicht?«
    »Weil das unser Geheimnis ist.«
    »Aber warum denn? Sogar dein Vater weiß, dass es Stanniol regnet.«
    »Ja, aber sag ihr nicht, dass du es gesehen hast. Dass wir es gesehen haben. Ich erzähle Gabriele nichts davon, und du erzählst Maria nichts davon.«
    Sie zuckt die Achseln. »Von mir aus.«
    Ich reiche ihr den kleinen Finger zum heiligen Schwur und sage: »Schwör es mir!«
    Wir haken unsere kleinen Finger ineinander und schwören.
    Sie wendet sich zum Gehen, dreht sich aber noch einmal um:

Weitere Kostenlose Bücher