Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
»Heiraten wir, wenn wir groß sind?«
»Keine Ahnung«, erwidere ich, und dann: »Wenn du das willst, ja.«
Sie kommt zurück und zeigt mir ihren kleinen Finger. »Schwör es mir!«, sagt sie.
2. KAPITEL
»Warum bist du gekommen?«
»Du musst Zeno den Sommer über bei dir beherbergen.«
»Ausgeschlossen.«
»Bis Anfang September, das sind zwei Monate. Ich werde ihn oft besuchen. Außerdem werde ich ihn hin und wieder für einen Tag nach Genua mitnehmen.«
»Kommt gar nicht infrage.«
»Vittorio hat Leukämie, Papà. Er stirbt.«
»Das tut mir leid.«
»Das tut dir leid?«
»Natürlich.«
»Natürlich?«, sagte meine Mutter, die sich beherrschen musste, um nicht laut zu schreien. » Es tut mir leid und natürlich , mehr hast du dazu nicht zu sagen? Merkst du überhaupt, was du da redest?«
Großvater ließ sich Zeit, bevor er antwortete: »Ich weiß nur, dass das der falsche Sommer dafür ist, Agata.«
»Es ist der falsche Sommer, logisch. Wie konnte ich das nur übersehen? Ich werde es Vittorio ausrichten. Weißt du was, Vittorio? Du hast dir den falschen Sommer ausgesucht, um an Leukämie zu erkranken. Können wir die Krankheit nicht um ein Jahr verschieben? Na, was meinst du?«
»Du verstehst das nicht.«
»Ach, ich soll das nicht verstehen?«
Ich war auf der Bank vor dem Haus sitzen geblieben. Die Fenster waren geschlossen. Die Stimmen von Mutter und Großvater durchdrangen das Holz und den Stein des Hauses, um zu mir zu gelangen. Sie sickerten durch die Risse im Putz und verloren sich in der Ferne. Für jedes Wort, das ich hörte, malte ich mir vier Worte aus. Ich strich über die Bank, um die Körnigkeit der Oberfläche zu spüren, die Astlöcher, die Maserung des Brettes. Darunter nahmen Ameisen eine unsichtbare Straße, auf der sie Grashalme, Brotkrümel – vermutlich die Reste von Großvaters Frühstück – und eine Oleanderblüte mit einem fleischig-rosa Kelch transportierten. Die Lastenträger bildeten das Ende der Prozession. Das Ganze sah aus wie eine Zeremonie. Auch das war Leben. Ich zog den Skizzenblock und einen 4B-Bleistift aus meiner Reisetasche. Ich war schon immer ein Fan von weichen Minen. Ich strich mit der flachen Hand über das Gras. Es war kein bisschen feucht, sondern einladend trocken.
Mein Vater würde sterben, hatte Mutter zu Großvater gesagt. Wenn wir über seine Krankheit gesprochen hatten, dann nie mit diesen Worten. Heilung , dieses Wort war schon gefallen, und wenn nicht Heilung, dann die Möglichkeit, mit der Krankheit zu leben. Vom Tod war jedoch nie die Rede gewesen. Ich legte mich rücklings ins Gras und begann ausgehend von der Brooklyn Bridge Gwen Staceys Tod zu zeichnen: Gwen Stacey war Peter Parkers große Liebe, was Goblin nicht verborgen geblieben war. Und so hatte er Gwen eines Tages tatsächlich entführt und gedroht, sie von einem der beiden riesigen Pylone zu werfen. Spiderman war natürlich blitzschnell herbeigeeilt, um Gwen zu retten, wobei er sich mit Goblin einen erbitterten Kampf lieferte. Aber Goblin hatte die Frau fallen lassen. Spiderman hatte sein Netz gesprüht und sie, eine Sekunde bevor sie auf dem eiskalten East River zerschellt wäre, aufgefangen. Doch nachdem er sie hochgezogen hatte und endlich in die Arme schließen konnte, merkte er, dass Gwen tot war: Nicht Goblin hatte sie getötet, sondern er selbst. Der heftige Ruck, der ihren Fall gestoppt hatte, hatte ihr das Genick gebrochen. Peter liebte sie und hatte alles getan, um sie zu retten, ja er hatte wirklich alles versucht. Und trotzdem war Gwen gestorben. Manchmal reicht es eben nicht, alles zu geben. Manchmal soll das, was wir uns wünschen, einfach nicht sein, Schluss, Ende, aus. Wir scheitern, weil es keine Möglichkeit gibt, nicht zu scheitern: Und dann ist es egal, welche Strategie wir anwenden, um uns dem Schicksal in den Weg zu stellen. Auf welche Kräfte wir zurückgreifen. Oder wie viel Liebe im Spiel ist.
Während ich zeichnete, wie das Netz nach unten schoss, hatte sich die Haustür geöffnet, und Mutter und Großvater waren wieder herausgekommen. In der wirklichen Welt betrug die Entfernung, die sie trennte, nur wenige Zentimeter, doch an ihren Gesten und Blicken konnte man erkennen, dass sie Lichtjahre, Galaxien voneinander entfernt waren. In einem Tonfall, als müsste sie ihm – und sich selbst – noch mal alles erklären, sagte meine Mutter: »Du kannst bleiben, Zeno. Vorausgesetzt, du möchtest nicht nach Capo Galilea zurück. Wenn du bleibst, sehen wir uns,
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