Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Ei oder mit Wolle, aus der unsere Mutter Pullover strickt.
Unser Vater freundet sich mit Ioles und Marias Vater an. Er ist ein brummiger, wortkarger Mann. Er stellt ihn anderen Bauern und Viehzüchtern aus der Gegend vor, sagt, er sei ein zuverlässiger Arbeiter mit einer schnellen Auffassungsgabe. Was ja auch stimmt. Unser Vater lernt sämtliche Tätigkeiten. Je nach Saison schneidet er Pflanzen zurück, hebt Gräben und Bewässerungskanäle aus, klopft Steine, erntet Kirschen, Äpfel und Brennnesseln, konstruiert Kletterhilfen für Tomaten und Bohnen, sät Salat, Radicchio und Radieschen aus. Er lernt, den Dung mithilfe einer dreizinkigen Mistgabel auf dem Boden zu verteilen. Er lernt, das richtige Werkzeug fürs Umstechen auszuwählen: Der herzförmige Spaten eignet sich für harte Böden, der rechteckige für weiche.
Unser Vater ist schnell von Begriff, nur sein Körper ist die Arbeit nicht gewohnt. Wenn er am Abend nach Hause kommt, sind seine Hände voller Blasen und bluten. Während er sie zum Desinfizieren in Salzwasser badet, wendet unsere Mutter das Gesicht ab.
Sonntagmorgens gehen wir zur Messe. Wir sind die Letzten, die die Kirche betreten, sind anwesend, aber auch nicht mehr. Wir beten nicht laut mit, aber wenn sich jemand nach uns umdreht, bewegen wir stumm die Lippen oder täuschen einen Hustenanfall vor. Wir sitzen in der hintersten Reihe. Manchmal setzen wir uns gar nicht, sondern bleiben zwischen den Beichtstühlen und dem roten Samtvorhang stehen, der eine Privatkapelle verbirgt. Gabriele und ich spielen mit dem Vorhang, geben Iole und Maria Zeichen, die in der Mitte der vierten Reihe sitzen.
Ist die Messe vorbei, betreten wir geschlossen die Piazza, wobei wir von unseren Eltern eingerahmt werden, die Großeltern gehen voraus. Wir sind angehalten, so wenig wie möglich zu reden, uns Witze und Kommentare zu verkneifen. Gleichzeitig dürfen wir nicht unhöflich wirken. Die Bewohner der umliegenden Ortschaften kommen am Sonntagvormittag zur Messe zusammen. Mit einem Kopfnicken begrüßen sie unseren Vater. Er lüftet den Hut und macht eine angedeutete Verbeugung vor den Frauen. Er ist anders, feiner und vornehmer, einer, der mit Tinte und Papier umgeht. Er drückt Hände aus Stein und Hände aus Holz, seine eigenen sind trotz der Arbeit weiß wie Wachs. Die Leute lächeln ihm zu.
»Auf dem Heimweg sammelt ihr Brennnesseln!«, befiehlt uns die Großmutter. »Ich habe Eier gefunden.«
Über die Messe reden wir nie, kein Kommentar. So als würden wir gar nicht hingehen, sondern zu Hause bleiben, so als würden sich unsere Körper verselbständigen. Aber pünktlich am Sonntagabend streckt sich unser Vater zwischen Gabriele und mir aus und bittet uns flüsternd, die Augen zu schließen. Wir gehorchen, auch wenn die Dunkelheit im Zimmer erdrückend ist: Wir haben die Fenster mit Stoff verhängt, und nicht einmal ein Fingerbreit Licht dringt unter der Küchentür herein.
Schma Jisrael adonai elohenu adonai echad , sagt unser Vater – ein geflüstertes Gebet, bei dem uns ganz warm ums Herz wird.
Wir wiederholen: Schma Jisrael adonai elohenu adonai echad.
Dann küsst er uns und kehrt ins andere Zimmer zurück. Als wir eines Sonntagmorgens zur Kirche gehen, hören wir einen Gewehrschuss aus dem Dorf. Wir erstarren, wagen kaum zu atmen. Neben der Straße breitet sich eine Wiese mit Margeriten aus, die zu den ersten Häusern hin abfällt. Einen Meter von der Böschung entfernt steht ein großer Nussbaum. Vom Nussbaum aus sieht man die Piazza. Gabriele ist bereits mehrmals hinaufgeklettert. Unser kleiner, gebeugter Vater geht auf den Nussbaum zu und klettert auf den ersten Ast. Weitere Gewehrschüsse, diesmal gefolgt von Gebrüll. Unser Vater schaut zwischen den Blättern hindurch, und wir blicken ihn an. Er springt mit einem Satz hinunter. »Lasst uns umkehren!
Wir verbarrikadieren uns im Haus, blockieren die Tür mit dem Tisch und den Stühlen.
»Und was, wenn sie das Haus in Brand stecken?«, sagt meine Mutter.
Wir rennen Hand in Hand hinaus in den Wald und halten uns lange dort auf, ohne den Pfad zu benutzen.
Während wir noch keuchend darin umherlaufen, frage ich unseren Vater: »Was hast du gesehen?«
»Wann?«
»Vom Nussbaum aus. Was hast du gesehen?«
»Männer.«
»Was haben die gemacht?«
»Keine Ahnung, das war ein Riesenchaos.«
»Aber wer hat geschossen?«
Unser Vater nimmt meine Hand. Leise sagt er an alle gewandt: »Wir gehen bis zum Berg«, und dann zu mir: »Los,
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