Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
durch die Fenster einfiel, auf Staubflocken traf. Ein sperriger weißer Ofen nahm einen Winkel des größten und gleichzeitig gemütlichsten Zimmers ein. Darin standen ein Tisch, Stühle, ein Sofa und verschiedene Möbel, die nicht aus ästhetischen, sondern aus praktischen Gründen miteinander kombiniert worden waren. An der linken Wand entdeckte ich zwei Türen. Die erste führte ins Bad, die zweite in den Keller. In einem Holzregal zwischen den Türen standen etwa zwanzig Klassiker – Anna Karenina, Madame Bovary, Moby Dick –, Erzählbände von Tschechow, Hemingway und Calvino sowie Krimis und ein paar Science-Fiction-Romane. Einige Bücher wirkten ziemlich verstaubt. Auf einem kleinen Tisch lag ein Heft mit einem geblümten Einband und zwischen seinen Seiten ein angekauter Bleistift. Ich griff danach, wollte es gerade aufschlagen, als mich Großvaters heisere Stimme am Schlafittchen packte.
»Was tust du da?«
Ich ließ das Heft fallen. Der Bleistift rollte erst zwischen die auf dem Tisch ausgebreiteten Blätter, dann zwischen zwei Whiskeygläser und fiel schließlich auf den Boden. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben und wieder zurückzulegen.
»Komm mit.«
Im ersten Stock befanden sich die Schlafzimmer. Es waren genau zwei, und beide gingen auf die Wiese vor dem Haus, sprich auf das Tal, den See und den Staudamm hinaus, den man von dort aus besser sehen konnte.
»Pack deine Sachen aus!«, sagte Großvater und stellte die Tasche aufs Bett. »Im Schrank findest du Bettlaken, Kopfkissenbezüge und Decken.« Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Ich setzte mich aufs Bett, das unter meinem Gewicht ächzte, schaute mich um und erblickte die kahlsten, deprimierendsten Wände, die ich je gesehen hatte. Ich ließ mich rücklings aufs Bett fallen und breitete die Arme aus. Feuchte Flecken verunzierten die Decke. In einer Ecke neben dem Fenster versetzte der Luftzug ein Spinnennetz in Bewegung. Ich schloss die Augen und schlief ein. Als ich sie wieder aufschlug, war es bereits dunkel. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Ich besaß keine Uhr, trug generell keine, weil mich das störte. Ich sah auf dem unbrauchbaren Star TAC nach, wie spät es war: Viertel nach sieben. Ich stand auf, öffnete die Tür und trat auf den Balkon hinaus. Das Wasser des Sees war matt, stählern. Am Badeplatz packten Erwachsene und Kinder ihre Sachen zusammen, vermutlich fuhren sie zurück an die Küste oder nach Hause. Unweit des großen Felsens konnte ich die Dächer des Ortes, einen Teil der Piazza, die Kirche, das Pfarrhaus und ein Stück Straße erkennen. Ich folgte ihr und entdeckte ein Mädchen. Es stand reglos am Feldrand, unweit einer Ansammlung von Heidekraut. Es trug ein blaues Kleid mit einem weißen Stoffgürtel, schien weder zu lächeln noch zu weinen, sondern blickte ungerührt in meine Richtung. Vielleicht schaute es den Berg an, das Haus meines Großvaters, die Wand unter dem Balkon, den Balkon. Doch warum sollte es den Balkon anschauen? Was, wenn es nicht den Balkon anschaute? Ich hob die Hand, bewegte sie langsam von links nach rechts. Das Mädchen sah zwar weiterhin in meine Richtung, reagierte jedoch nicht.
»Alles in Ordnung?«
Ich fuhr herum. Großvater stand in der Tür und spielte nervös mit einer Meerschaumpfeife.
»Ja, warum?«
»Weil du nicht runtergekommen bist.«
»Ich bin eingeschlafen.«
Großvater schnaubte laut durch die Nase, ließ sich aber ansonsten nichts anmerken. Er machte Anstalten, wieder nach unten zu gehen, drehte sich dann aber erneut zu mir um. »In einer Viertelstunde gibt es Abendessen.« Bei diesen Worten kaute er auf dem Mundstück seiner Pfeife herum und verließ anschließend den Raum.
Auf dem hastig gedeckten Tisch – Teller und Gläser standen direkt auf dem nackten Holz, daneben lagen zwei zerknitterte Papierservietten – entdeckte ich eine noch warme Pfanne mit Erbsen, Eiern und Tunfisch. Großvater nahm einen Schöpflöffel und gab mir eine Portion auf den Teller.
»Wenn du noch mehr willst, bedien dich!«
Er wollte gerade den ersten Bissen zum Mund führen – er aß mit dem Löffel, nicht mit der Gabel –, als er feststellte, dass Brot fehlte. Er schrammte mit dem Stuhl über den Boden, stand auf, holte Brot aus einem Korb und schnitt zwei große Scheiben davon ab: Eine legte er neben seinen Teller, die andere neben den meinen. Er nahm Wein und trug ihn zum Tisch. Er griff gerade wieder zum Löffel, als ihm dämmerte, dass ich wahrscheinlich keinen Wein
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