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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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»Vielleicht hat er Fieber«, sagt meine Mutter.
    Im Bett murmle ich allein vor mich hin: Schma Jisrael adonai elohenu adonai echad.
    *
    Wenn es schneit, kehrt Stille zwischen den Bäumen ein. Dann hindert der sich auf den Zweigen ansammelnde Schnee den Wind daran, sie zu bewegen. Schnee fällt dumpf zu Boden, die Luft riecht klar, funkelnd atmet das Eis. Alles ist ruhig. Großvater, der zu wissen glaubt, wie der Krieg funktioniert, sagt: »Prima! Wenn es schneit, müssen wir nicht mit Repressalien rechnen. Die Straße ist blockiert, sodass niemand den Berg heraufkommt.«
    Gabriele und ich bauen riesige Schneemänner, die größer und dicker sind als wir. Aus Zweigen werden Haare, aus Tannenzapfen und Steinchen Nasen und Ohren. Wir errichten Mauern, hinter denen wir uns verstecken. Wir bombardieren sie mit einem Schneeballhagel, dann zerstören wir sie heimtückisch. Unser Körper ist eine Waffe, eine Kanonenkugel, ein Geschoss. Mithilfe von verzogenen Holzbalken tun wir so, als würden wir Skifahren. Wir schnallen sie mit Eisendraht unter unsere Schuhe. Wir wagen es sogar, laut zu brüllen, uns hinfallen zu lassen, Purzelbäume zu schlagen.
    In dieser Nacht hört es nicht auf zu schneien. Ich stehe als Erster auf. Ich möchte den unberührten Schnee genießen, bevor Gabriele ihn gelb färbt, ihn beschmutzt, indem er in hohem Bogen vom Balkon pinkelt. Ich will einen Schneemann für Iole bauen. Ich ziehe mich lautlos an, um niemanden zu wecken. Ich gehe hinaus. Schon auf der Treppe ist das erste Gewehr auf mich gerichtet, das zweite vom Dach und das dritte vom Hof aus. Der Soldat auf der Treppe bedeutet mir mit einer Geste zu schweigen: Er streckt den Zeigefinger gen Himmel und legt ihn dann an die Lippen. Er steht vier Stufen unter mir. Seine Augen werden vom Helm verborgen. Ich rühre mich nicht, mache keinen Mucks. Weitere fünf Deutsche gehen die Treppe hoch und treten blaffend die Tür ein.
    Die Razzia wird den ganzen Vormittag fortgesetzt. Die Soldaten verschaffen sich Zutritt zu den Bauernhöfen. Sie töten Gänse und Schweine, füllen ihre Proviantbeutel mit Käse, Salami und Wein. Als sie wieder abziehen, haben sie etwa vierzig Männer im Schlepptau, darunter auch Ioles und Marias Vater sowie den unseren, weil er sich eingemischt hat, als ein Soldat Großmutter das Höhrrohr wegnahm. Die Gefangenen werden im Dorf vor der Kirche zusammengetrieben. Gemeinsam mit den anderen Verwandten sehen wir aus sicherer Entfernung zu. Irgendjemand betet. Andere bitten die Deutschen, ihren Angehörigen nichts zu tun. Unsere Mutter dreht sich im Kreis wie ein Hund, kaut an ihrer Nagelhaut und reißt sie sich ab.
    Schweigend eile ich atemlos zum Stall. Ich grabe die Zigaretten aus und renne wieder bergab. Die Straße ist vereist, und ich falle zweimal hin. Ich schlage mir das Knie auf. Als ich die Piazza erreiche, bewegt sich die Kolonne bereits hustend und taumelnd in Richtung Tal. Ich reiche unserer Mutter die Stange Zigaretten. Sie starrt sie begriffsstutzig an und fragt mit weit aufgerissenen Augen: »Wo hast du die denn her?«
    Ich bleibe stumm.
    Sie dreht sie wie einen Goldbarren in ihren Händen, denkt nach und schaut sich vergeblich suchend um. Schließlich schleift sie mich an der Jacke mit. »Kommt!«, sagt sie. »Wir holen euren Vater zurück.«
    Wir folgen der Kolonne querfeldein. Unsere Mutter stolpert und zerreißt ihren Rock. Sie rutscht auf dem Eis aus. Sie ruft, dass wir weitergehen, sie einholen sollen. Gabriele und ich stürmen die Hänge hinab, ohne auf Gräben, Steine oder schneebedeckte Wurzeln zu achten. Auch wir stürzen mehrmals, stehen aber sofort wieder auf. Endlich erreichen wir den Trupp Gefangener: Unser Vater ist der Letzte in der Reihe, er wird von zwei Soldaten flankiert. Wir gehen auf sie zu. Einer der beiden Soldaten schüttelt den Kopf, bedeutet uns zu gehen. Unser Vater starrt auf die Schuhe seines Vordermanns. Wir werden langsamer und folgen der Schar zehn Minuten lang in sicherer Entfernung. Als wir uns erneut nähern, kommt uns der Soldat von vorhin entgegen.
    »Haut ab!«, sagt er.
    Ich habe Angst, gebe Gabriele die Stange Zigaretten.
    »Haut ab, schnell!«, wiederholt der Soldat und zeigt auf den Berg.
    Auch Gabriele hat Angst. Wir weichen gemeinsam zurück, halten uns an der Hand. Der Soldat bleibt breitbeinig stehen und legt sein Gewehr an. Er zielt zuerst auf mich und ahmt das Geräusch eines Schusses nach. Dann zielt er auf Gabriele und tut dasselbe. Ich knicke mit einem Fuß um

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