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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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schneller!«
    *
    Ich baue mir ein Versteck unter den Farnwedeln. Zwischen den Pflanzen zerfällt die Sonne zu tanzenden Lichtpunkten. Ich fange sie mit einem Taschenspiegel ein, beleuchte die Ameisen. Zwischen den Ruinen eines Hauses finde ich einen Holzbalken. Ich trage ihn in das Versteck und lege mich darauf, wenn es geregnet hat und die Erde nass ist. Oder wenn ich aus Blättern Figuren falte. Ich verwende ihn auch, um mir andere Welten auszudenken: Der Balken besitzt eine Maserung, die ihn in eine Landkarte verwandelt. Ich sehe Inseln, Kontinente, Weltmeere.
    Eines Nachmittags lasse ich Steinchen wie Dampfer darüberfahren, als ein Unbekannter zwischen den Wedeln hindurchschlüpft und sich neben mir ausstreckt. Er hat ein Gewehr und ein rotes Halstuch. Seine Augen sind müde und geschwollen.
    »Wie heißt du?«, will er wissen.
    »Simone.«
    »Simone und weiter?«
    »Simone Carati.«
    »Wo wohnst du?«
    Ich zeige auf das Haus, das wir nicht sehen, von dem wir aber beide wissen, dass es existiert.
    Er spricht sehr schnell, der Mann mit den geschwollenen Augen. »Das mit den beiden Alten, stimmt’s?«, sagt er. »Wer sind die? Deine Großeltern? Deine Eltern leben auch dort, stimmt’s? Besser gesagt, eure Eltern, denn du hast einen Bruder, hab ich recht? Sind die das?«
    »Ja.«
    Er sieht sich um. »Was machst du hier?«
    Ich zeige auf meine Fantasiewelt auf dem Holzbalken. Er versteht nicht.
    »Willst du etwas wirklich Seltsames sehen?«, fragt er.
    Ich antworte nicht.
    »Keine Angst, du kannst mir vertrauen. Es ist einfach unglaublich! Aber du musst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen.«
    Ich antworte nicht.
    Der Mann mit den geschwollenen Augen dreht sich auf den Rücken und zieht das Gewehr an seine Brust. So bleibt er schweigend liegen. Dann dreht er sich auf den Bauch und sagt: »Dann eben nicht!« Er will das Versteck verlassen.
    »Einverstanden«, sage ich. Er hält inne und lächelt mich zögernd an. »Kannst du überhaupt ein Geheimnis für dich behalten?«
    »Mich gibt es gar nicht«, sage ich. »Also auch nicht das, was ich weiß.«
    Der Mann mit den geschwollenen Augen hebt die Brauen: »Aber ich kann dich sehen.«
    »Aber sobald Sie aufhören, mich anzusehen, gibt es mich nicht mehr.«
    Wir folgen dem Pfad bergauf. Wir gehen eine halbe Stunde, bis wir ihn bei einem moosbewachsenen Felsen verlassen. Wir betreten den Wald. Wir reden nicht, machen keinerlei Geräusch. Auf einmal tut sich eine Lichtung vor uns auf. Irgendetwas ragt aus dem Boden, aber ich begreife nicht, was. Es erinnert an Holzpfähle von etwa einem Meter Länge. Sie sind bunt, stehen immer paarweise nebeneinander, manche sind leicht gespreizt. Auf Steinen oder an Bäume gelehnt sitzen Männer. Sie rauchen. Auch sie sind bewaffnet. Wir kommen näher.
    »Wo hast du den denn aufgegabelt?«, fragen sie.
    Der Mann mit den geschwollenen Augen lacht ordinär und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund: »Zwischen den Farnwedeln.«
    Ich trete näher. Das sind keine Pfähle: Aus dem Boden ragen Beine. Irgendjemand hat Menschen mit dem Kopf nach unten vergraben. Man sieht nur Stiefel und Hosen bis zum Knie. Ich laufe allein durch diesen Wald aus toten Beinen, berühre Schuhsohlen, Oberleder. Nebelschwaden schieben sich zwischen die Bäume. Ich spüre, wie mich jemand packt, fortschleift.
    »Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden!«, sagt jemand. Es ist eine neue Bassstimme.
    Der Mann mit den geschwollenen Augen sagt: »Das ist doch bloß ein kleiner Junge!«
    »Bring ihn weg, verdammt noch mal! Bring ihn weg!«
    Ich kann mich nicht von den toten Beinen losreißen, muss mich immer wieder umdrehen. Irgendwann verschwinden sie hinter den Bäumen. Ein Mann begleitet mich zurück nach Hause. Es ist nicht der mit den geschwollenen Augen, er ist sanft, besorgt. Er erzählt mir von seinem Sohn, der ungefähr in meinem Alter ist. Davon, wie er ihn vor dem Krieg mit zum Angeln nahm oder mit ins Dorf, ins Lichtspielhaus. Er schenkt mir eine Stange Zigaretten. Ich nehme sie, ohne mich zu bedanken. Nicht weit von unserem Haus entfernt renne ich ohne Vorwarnung los. Der nette Mann versucht, mich am Pullover und an den Haaren zu erwischen, er zerkratzt meinen Hals, läuft mir nach.
    »Bleib stehen, verdammt noch mal!«, schreit er. »Mach langsam!«
    Dann verliere ich ihn aus den Augen.
    Die Stange Zigaretten verstecke ich im Stall, ich grabe ein Loch dafür. Was ich gesehen habe, erzähle ich niemandem. Ich gehe vor allen anderen ins Bett.

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