Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
etwas von Theorie. Wie dem auch sei, hier!« Er reicht mir mein Studienbuch. »Als Nächster bist du dran«, sagt er und weist auf die Tür zur Aula.
Die Prüfung dauert vier Minuten, und ich falle durch. Im Zug, der mich nach Hause bringt, will sich ein Mann im dicken Mantel neben mir niederlassen. Plötzlich dreht er sich mit dem Koffer in der Hand um, um ihn besser verstauen oder öffnen zu können, und knallt ihn mir voll ins Gesicht. Er fügt mir eine Platzwunde über der Braue zu, ich blute. Eine Frau eilt mir zu Hilfe und betupft die Wunde mit einem Taschentuch, während sich der Herr wortreich entschuldigt. Völlig zerknirscht sagt er: »Ich habe Sie nicht gesehen, ehrlich nicht! Wie konnte das nur passieren? Ich war mir sicher, da ist niemand.«
»Keine Sorge, so was kann schon mal vorkommen.«
Am Tag darauf beschließe ich, mein Studium aufzugeben.
*
Samstagmorgens nach dem Frühstück habe ich mir angewöhnt, an Elena zu schreiben. Ich erzähle ihr von der Arbeit, vom Gedankenaustausch mit meinem Vorgesetzten, von den Erfolgen meines Bruders auf der Normale di Pisa. Sie besucht mich mit ihren Eltern, ich nehme sie zum Wandern und Skifahren mit in die Berge. Eines Tages bekomme ich einen Brief von der Armee und werde zum Wehrdienst eingezogen.
Ich habe noch nie um Gefälligkeiten gebeten, aber in diesem Fall rufe ich einen ehemaligen Klassenkameraden an, einen, mit dem ich klettern gehe und dessen Vater Feldwebel bei den Gebirgsjägern ist. Ich komme zu den Gebirgsjägern. Ich finde mich zur Rekrutenausbildung ein. Der Vater meines Freundes hat ohne mein Wissen befohlen, mich nicht im Gelände, sondern im Musterungsbüro einzusetzen, wo sämtliche Empfehlungsschreiben von Bischöfen und Politikern landen. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Bitten so weit wie möglich zu entsprechen – falls man ihnen überhaupt entsprechen kann.
Am ersten Tag händigt man mir eine zu große Bergmütze aus, und ich werde bestraft, weil sie mir über die Augen rutscht. Am Tag darauf bekomme ich eine zu kleine und werde bestraft, weil sie mir zu hoch auf der Stirn sitzt. Es ist eine absurde Welt, aber ich gewöhne mich daran. Mir gefällt, dass wir in unserer Uniform alle gleich sind, ein und derselben Truppe angehören: Das beruhigt mich, dadurch fühle ich mich irgendwie beschützt.
Als ich eines Nachts vom Duschen komme, werden ich und vier weitere Rekruten von einigen älteren Kameraden aufgehalten.
»Hinknien!«, befehlen sie.
»Warum?«, frage ich.
»Hier wird nicht lange rumdiskutiert, hinknien! Kniet euch alle hin.«
Wir knien uns hin.
»Jetzt wird Kommunion gefeiert. Du da, bist du ein guter Christ?«
Er redet mit mir. »Nein«, sage ich.
»Warum nicht?«
»Ich bin Jude.«
»Jude?« Alle lachen, und der Älteste sagt: »Wir werden also Zeuge einer Bekehrung.« Sie heben ein Gefäß mit einer gelblichen Flüssigkeit: Maultierpisse. Darin schwimmen Karottenscheiben. Mit einer Zange holen sie sie heraus. Sie halten sie uns hin, wobei sie irgendein Pseudomariengebet herunterleiern. Dann sagen sie: »Zunge raus!« Die Karottenscheibe ist mit Urin durchtränkt und löst sich sofort im Mund auf. Ich schlucke, denke an den Wald aus toten Beinen, an den chemischen Verwandlungsprozess, den die Karotte in der Harnsäure durchmacht. Einer kotzt. Ein anderer springt auf und rennt, um sich ein Glas Wasser zu holen. Die älteren Kameraden lachen. Ich knie immer noch.
»Du darfst jetzt aufstehen«, sagen sie.
Ich gehorche, erhebe mich, stehe stramm.
Die älteren Kameraden schauen sich an und verstehen nicht. »Was soll das?«, fragen sie. »Geh schlafen und putz dir vielleicht noch die Zähne. Und niemanden küssen, kapiert?« Sie lachen.
Als der nächste Schwung an der Reihe ist, suchen dieselben Kameraden nach mir. »Coifmann, diesmal musst du die Messe feiern!« Sie packen mich unter den Achseln. Ich fange die Pisse auf, bereite die Hostien vor. Ich wehre mich kein bisschen. Ich bin ein Mitläufer: Ich sage, was ich sagen soll, tue, was ich tun soll.
Drei Monate später, am Ende meines Wehrdienstes, werde ich dem Kommando der Gebirgsjägerschule zugeteilt, an der die Feldwebel ausgebildet werden.
Ich komme in die Ausbildungsabteilung, weil bekannt ist, dass ich mich für Materialien begeistere und Klettererfahrung besitze. Ich erhalte den Auftrag, Mannschaften zu bilden und mit ihnen in den Bergen klettern zu gehen, um die neue Ausrüstung auszuprobieren. In diesen Monaten erlebe ich, dass Holzski den
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