Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
aufhört, danach sehen wir weiter.«
Er geht ins Bad, zieht sich aus, wäscht sich.
»Die Signora wird morgen ganz verzweifelt sein. Blut ist schlimmer als Sperma.«
Tommaso streckt sich auf dem Bett aus. Er sagt, am Ende der Treppe, zwischen Tor und überdachtem Markt gebe es Glatteis. Es habe nicht viel gefehlt, und er wäre mit dem Kopf gegen einen Betonpfeiler geknallt. Kurz vor dem Einschlafen murmelt er: »Nein. Ich glaube nicht, dass sie gebrochen ist.«
Am Tag darauf bekomme ich mit, wie über eine Kneipenschlägerei geredet wird.
*
Die Abiturprüfung legen wir in Turin ab, in einer städtischen Schule.
Ich fühle mich fehl am Platz, unzulänglich, ungeschickt. Ich schwitze. Die Hitze ist unerträglich. Am Tag der mündlichen Prüfung wache ich mit einem zuckenden rechten Auge auf, das Lid flattert wie die Flügel eines Kolibris.
Als ich aufgerufen werde, reagiere ich nicht. Tommaso gibt mir ein Zeichen: Du bist dran, steh auf! Ich weiß nicht, wo ich hin muss. Meine Mitschüler zeigen auf die Prüfungskommission.
Ich bekomme eine sehr gute Note, bin einer der Besten aus Ivrea. Die Firma bietet mir eine Stelle an, in der Kostenabteilung. Dort weiß man, dass ich mich für Betriebswirtschaft begeistere. Und ich sage allen, dass ich mich an der Universität einschreiben werde, obwohl ich mir das gar nicht leisten kann. Unsere Mutter ist stolz, Gabriele auch. Großvater ist vor einigen Monaten gestorben, Ende Februar war ich in Genua auf seiner Beerdigung.
Meine Abteilung beschäftigt sich mit den Materialeinkaufslisten sämtlicher Niederlassungen, nicht nur mit denen aus Italien, sondern auch mit denen aus dem Ausland. Alle technischen und planerischen Abteilungen, alle siebzig Abteilungen für Arbeitsabläufe, eine für jede Technologie, geben ihre Daten an uns weiter. Anhand der Materialkosten und Fertigungszeiten müssen wir die Finanzplanung machen. Anhand der Daten, die wir den Abteilungsleitern über den Gesamtpreis eines jeden Produkts liefern, werden die Unternehmensstrategien entwickelt.
Ich raffe mich dazu auf, mich für Betriebswirtschaft einzuschreiben, aber mein Gehalt ist so niedrig, dass ich Überstunden machen muss. Ich beschließe, mich sofort auf dem Fachgebiet zu versuchen, das mich am meisten interessiert und in dem sich bisher noch kein anderer Absolvent versucht hat: in Betriebswirtschaft.
Ich versuche zu studieren, aber wegen der vielen Arbeit schaffe ich es nicht.
Ich lese die Vorlesungsskripte nicht und kaufe mir auch nicht die Bücher meines Professors, denn die kann ich mir nicht leisten. Ich leihe sie mir in der Bibliothek aus. Manchmal sind es andere Texte, wenn auch zum selben Thema. Ich rede mir ein, genug zu wissen, um die Prüfung ablegen zu können. Dafür nehme ich mir einen Tag frei. In Turin kann ich bei Freunden der Familie übernachten. Sie sind nett und haben ein freies Zimmer, das ich haben kann, sooft ich will. Sie haben auch eine Tochter namens Elena. Sie ist zwei Jahre jünger als ich. Abends sitzen wir noch lange auf dem Balkon, betrachten die Lichter der Stadt und reden. Sie will Medizin studieren: Pädiatrie.
Am Vormittag verlaufe ich mich in den Fluren der Universität. Schließlich finde ich die Aula: Die Studenten scharen sich davor. Bevor man zum Professor geht, muss man sich bei seinem Assistenten einer Vorprüfung unterziehen.
»Sind Sie tatsächlich Techniker?«
»Ja, wieso?«
»Ich habe Sie noch nie gesehen. Waren Sie in den Vorlesungen?«
»Nein, das geht nicht, ich arbeite in Ivrea.«
»Ich sehe Ihr Buch nicht. Haben Sie Ihr Buch nicht dabei?«
»Welches Buch?«
»Das Buch des Professors.«
»Ich habe nicht nach dem Buch des Professors gelernt. Ist das Voraussetzung?«
»Nach welchem Buch haben Sie dann gelernt?«
»Nach anderen betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern. Außerdem arbeite ich …«
»Setzen Sie sich.«
»Wie bitte?«
»Setzen Sie sich«, wiederholt er.
Er fragt mich aus, wir unterhalten uns ungefähr zwanzig Minuten lang. Schließlich lehnt er sich zurück, verschränkt die Hände im Nacken und geht vom Sie zum Du über: »Zu manchen Themen weißt du mehr als ich.«
»Ist das Ihr Ernst?«, frage ich.
»Das ist mein voller Ernst. Aber du wirst durchfallen.«
»Ich verstehe nicht«, sage ich.
»Der Professor wird dich durchfallen lassen. Weil du sein Buch nicht gelesen hast und die Fragen nicht in seinen Worten beantworten kannst. Außerdem ist das, was du sagst, von Praxis durchsetzt, der Professor versteht
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