Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Diejenigen, die sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten oder die Augen verdrehten, wenn er vorbeiging, waren die Ersten, die sich ihm heimlich anvertrauten. In Erwartung von Antworten, mit denen Großvater natürlich nicht dienen konnte.
Da waren mir die Spaziergänge deutlich lieber. Als ich ihn eines Morgens aus dem Haus gehen sah, war ich ihm gefolgt, ohne dass er mich weggeschickt hatte.
Es gab kein bestimmtes Ziel – zumindest kam es mir so vor –, aber das Gravitationszentrum war der See. Fast immer lief es darauf hinaus, dass wir ihn einmal umrundeten. Eines Tages ließen wir uns unweit des Ufers auf einem Felsen nieder.
»Da unten habe ich über ein Jahr gewohnt«, sagte er und zeigte aufs Wasser.
Ich runzelte die Stirn.
»Als der Staudamm gebaut wurde, hat der See alles überflutet.«
»Willst du damit sagen, dass unter Wasser ein Haus liegt?«
»Mehr als nur eines. Auch das von Iole und Maria ist noch dort unten.«
»Das Haus von wem?«
»Das von zwei Mädchen, die ich einmal kannte, als ich noch jünger war als du.«
Ich drehte mich um und legte den Kopf schief: »Du nimmst mich auf den Arm!«
»Das war noch im Krieg. Ich hatte einen Onkel im Widerstand. Der hat uns falsche Pässe besorgt und uns aus Genua hergeholt. Das war unsere Rettung.«
»Warum, wart ihr Juden?«
»Ja.«
»Und ich bin kein Jude?«
»Nein. Deine Großmutter war eine goi .«
»Und das wäre?«
»Eine Nichtjüdin. Man ist nur Jude, wenn die Mutter jüdisch ist. Und sie war keine Jüdin. Deine Mutter ist auch keine, also bist du ebenfalls kein Jude.«
Während er sprach, starrte ich aufs Wasser in der Hoffnung, die Ruinen des Hauses, in dem Großvater gewohnt hatte, würden daraus emporsteigen.
»Ich habe dich nie beten sehen«, sagte ich.
»Nein, du hast mich nie beten sehen.«
»Meine Großeltern, meine anderen Großeltern, gehen in die Kirche.«
»Und du?«
»Ich auch, zusammen mit ihnen. Anschließend suche ich Don Luciano im Pfarrhaus auf.«
»Recht so.«
»Aber sieht man das Haus manchmal?« Ich zeigte auf den See.
»Nein.«
»Und wenn man das Wasser ablässt?«
»Das ist noch nie passiert, seit ich hier bin«, sagte er, kramte seinen Tabak hervor und hantierte mit seiner Pfeife. »Es wäre schön, es wiederzusehen.«
Ihm hätte das gefallen, mir aber nicht. Mein eigenes Haus in Trümmern zu sehen, meine ich. Aber seines – seines hätte ich schon gern gesehen: ausgewaschen und schlammbedeckt. Meine präpubertäre Neugier labte sich an fremden Dramen. An Angst und Erregung, an Makabrem, vor dem man lachend flieht, an Gespenstern, vor denen man die Augen schließt – ganz einfach, weil sie mich nichts angingen. Es ist nicht schwer, mutig zu sein, wenn es nicht die Ruinen des eigenen Lebens sind, wenn die Schatten nicht zu Menschen gehören, die man einmal gekannt hat.
»Ich habe mich nie mehr so geborgen gefühlt wie in diesem Haus. Ich hätte es niemals verlassen dürfen.«
Er nahm einen flachen Stein und ließ ihn über das Wasser hüpfen.
»Wenn man noch klein ist, kann man nicht immer tun, was man will«, sagte ich.
In den Wochen darauf entwickelte sich sogar ein gemeinsames Abendritual, das darin bestand, sich ganze Welten auszudenken. Tagsüber verbrachte ich aufregende Stunden mit Luna und Isacco, in denen wir miteinander spielten und stritten. Und wenn ich dann abends im Sessel oder draußen im Schneidersitz im Gras saß, mit einer Wolldecke wegen der Bodenfeuchtigkeit, hörte ich zu, wie dieser wortkarge Mann Welten ersann, die ich, hypnotisiert von seiner Stimme, heimlich vervollständigte oder mir genauer ausmalte. Das Misstrauen, das uns fast einen Monat lang voneinander getrennt hatte, löste sich langsam auf, wich Entdeckerlust.
Als ich eines Abends müder war als sonst und mich auf dem Sofa zusammengerollt hatte, während draußen der Mond die Wiesen beschien, bat ich ihn, mir laut vorzulesen. Mein Vater machte das oft. Ohne ein weiteres Wort griff er zu den Hemingway-Storys, die er am Abend des Unwetters zur Hand genommen hatte. Ich ließ ihn die Geschichte zu Ende lesen, ohne viel zu verstehen: all das Zeug über den Job eines Barmanns, über Sauberkeit und Glanz. Aber wo wir schon mal dabei waren, fragte ich ihn, wo er denn gern leben würde, wenn er die Wahl hätte. Es könne auch ein Ort in der Fantasie sein.
Ich rechnete nicht damit, dass er auf mich einging, und erwartete, dass er irgendwas Banales sagte, wie Erwachsene das in solchen Fällen zu tun pflegen.
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