Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
sind wirklich großartig. Was willst du denn sonst machen?«
Ich denke nach. »Keine Ahnung«, sage ich.
»Oh, Simone: ›Keine Ahnung.‹ ›Ich weiß nicht‹.« Gabriele tut so, als hielte er einen Fotoapparat in der Hand. »Du musst ins Objektiv schauen«, sagt er. »Verstanden? Du musst etwas ins Visier nehmen. Es bewundern. Du musst etwas begehren, danach streben.« Er zieht mich an sich, legt einen Arm um mich. »Lass dich auf Hoffnung und Aufregung ein.« Er zerzaust mir das Haar. »Kapiert?«
Die beiden Gämsen haben getrunken. Sie erklimmen die Felsen und verschwinden hinter einem Felseinschnitt. Wir hören den Ruf des Milans. Die Sonne geht unter, es wird Zeit umzukehren, aber ich will nicht. Ich sehne mich nach mehr von dieser Stille, von diesem Licht. Ich sehne mich danach, dass der Arm meines Bruders auf meiner Schulter liegen bleibt.
»Kapiert?«, wiederholt Gabriele. Dann will er den Arm wegnehmen, aber das lasse ich nicht zu. Ich halte ihn fest, drehe mich um und umarme ihn, wie ich ihn noch nie in meinem Leben umarmt habe: Ich packe seine Haare, direkt über dem Jackenkragen. Aus meinem tiefsten Innern steigt mit einer unerwarteten Heftigkeit jedes Molekül Sehnsucht auf, die ich nach ihm habe. Ich zittere. Gabriele schweigt. Er nimmt mich, meine Ängste und meinen Körper mit jedem Millimeter des seinen auf. Wir bleiben so eng aneinandergeschmiegt stehen, keine Ahnung, wie lange. Bis ich die Kraft finde, mich von ihm zu lösen, tief durchzuatmen und zu sagen: »Kapiert.«
Ich lerne, die Gerüche zu lieben, von denen die Firma getränkt ist. Gerüche nach Werkzeugen, Wänden, menschlichen Körpern. Nach geschmiedetem Eisen und dem Kühlöl der Werkzeugmaschinen: ein weißes Emulsionsöl, das an Milch erinnert und ständig nachgefüllt werden muss. Sein stechender Geruch vermengt sich mit dem der Eisenspäne. Kauft man die fertigen Produkte im Laden, riecht man das nicht mehr, aber genau so ist es. Die Firma hat auch eine Plastikabteilung. Eine der besten der Welt, wie es heißt. Der Plastikgeruch ist der einzige, der mich anwidert.
Unter Anleitung von Professore Rossa lerne ich, Hammer, Amboss und Schmiede zu benutzen. Ich stelle einen Krummsäbel her. Als ich ihn das erste Mal in einen Baumstamm schlage, bricht er. Ich weiß, wie es geht, scheitere aber trotzdem. Ich beherrsche die Theorie, kann sie aber nicht anwenden.
Die Firma organisiert Abendvorträge für Einwohner, Arbeiter und Lehrlinge. Ich bin der Einzige an unserer Schule, der sie besucht.
Schriftsteller, Architekten und Forscher aller Fachrichtungen kommen nach Ivrea, um von ihren Experimenten und Erfahrungen zu berichten. Mich interessieren die Vorträge über Wirtschaft, besonders die über Betriebswirtschaft. Ich spreche mit Professoressa Scaglioni und Gioeles Eltern darüber, die mich ermutigen. »Du musst dich an der Uni für Betriebswirtschaft einschreiben.«
Das Fotografieren gebe ich auf. Wann immer es geht, suche ich das Gespräch mit den Angestellten. Ich stelle fest, dass sich einige mit den Herstellungskosten beschäftigen. Sie machen sich nicht unter den sarkastischen Blicken eines Professore Rossa die Hände schmutzig, sondern sitzen im Büro und rechnen. Gleichzeitig stelle ich fest, dass die meisten von ihnen nichts über die Werkstätten wissen. Wer mit dem Taschenrechner umgehen kann, kennt die Herstellungsprozesse nicht, und wer die Herstellungsprozesse kennt, versteht nichts von Betriebswirtschaft. Jeder kennt nur einen Teil des großen Ganzen, und das funktioniert nicht: Wer sich mit Controlling beschäftigt, muss alles wissen, nicht nur einen Teil davon. Ich merke, dass ich alles über die Produktionsmaterialien und die Arbeit in den Werkstätten weiß. Jetzt muss ich noch Buchhaltung und Rechnungswesen lernen und meine technischen Kenntnisse mit der Theorie zusammenführen. Ich muss die Abteilungsleiter aufsuchen, wenn das geht. Allen sagen, dass ich Betriebswirtschaft studieren werde, auch wenn das hart wird: Ich muss arbeiten, ich habe kein Geld, um mich an der Universität einzuschreiben. Unsere Mutter kann keine zwei Studenten durchfüttern. Sie ist darauf angewiesen, dass ich so schnell wie möglich auf eigenen Füßen stehe. In einem Brief schreibt sie mir:
Es freut mich, dass du in Ivrea selbstbewusster geworden bist. Aber wir wissen beide, dass Gabriele fürs Studium begabter ist als du. Seine Professoren in Pisa sind begeistert, sie sagen ihm eine fantastische Zukunft voraus. Wir sollten alles
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