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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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tun, was in unserer Macht steht, um seine Karriere zu fördern. Bist du damit einverstanden?
    Professoressa Scaglioni leiht sich betriebswirtschaftliche Lehrbücher von einem Cousin. Nachts im Bett lese und lerne ich. Wenn ich müde bin, schlage ich Hemingway auf.
    *
    Um Geld zu sparen, ziehe ich im vierten Jahr erneut um. Ich teile mir ein Zimmer mit einem Klassenkameraden. Er stammt aus dem Aostatal und fährt jedes Wochenende zu seinen Eltern. Er heißt Tommaso Rey. Sein Vater ist Arzt, und er benimmt sich etwas seltsam. Er macht einen auf intellektuell, zieht Geschichte und Literatur den anderen Fächern vor, pflegt aber auch Umgang mit den Arbeitern. Vor allem mit zweien: Er trifft sie abends, geht mit ihnen was trinken, manchmal lädt er mich ein mitzukommen. Er raucht, kommt betrunken nach Hause. Hin und wieder muss ich ihm beim Ausziehen helfen. Sein Lebensstil fasziniert mich, macht mir aber auch Angst. Ich gehe mit, fühle mich aber in seiner Gegenwart unwohl. Wenn ich Nein sage, mustert er mich von Kopf bis Fuß und sagt: »Verstehe.« Dann lacht er höhnisch und zündet sich eine Zigarette an.
    Er ist schmutzig, weil er sich nicht wäscht. Er stinkt nach Schweiß, masturbiert jede Nacht unter der Bettdecke. Der Gestank nach Achselschweiß vermischt sich mit dem Chlorgeruch des Spermas. Kommt die Vermieterin zum Bettenmachen und Staubwischen und wechselt Tommasos Bettwäsche, beschwert sie sich: »Und was mache ich jetzt bitte schön mit diesen Landkarten?«
    Eines Spätnachmittags im Winter protestiert sie, als Tommaso und ich gerade lernen. Wir sitzen nebeneinander am einzigen Schreibtisch, um die Schultern eine Decke, auf dem Kopf eine Wollmütze und an den Händen Handschuhe.
    Die Signora reißt die Tür auf, dass die Scheiben klirren:
    »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Rey! Ich kann unmöglich zweimal die Woche die Bettwäsche wechseln, bei dieser Kälte wird sie nicht trocken. Und die von gestern ist dermaßen fleckig, dass sie sich nicht mal mehr falten lässt.«
    Tommaso dreht sich um, steht auf und schreit: »Die Kälte, genau darüber wollte ich mit Ihnen reden! Über die Kälte. Sehen Sie doch nur, unter welchen Bedingungen wir hier lernen müssen! Meine Gedanken haben dieselbe Konsistenz wie die Atemwölkchen, die mir aus dem Mund kommen. Ist Ihnen das eigentlich klar? Sie legen so wenig Holz in ihren verdammten Ofen, dass mir die Gleichungen im Kopf gefrieren. Wissen Sie überhaupt, wer wir sind, meine Liebe?« Er deutet auf uns. Ich sehe ihn verwirrt an. »Wissen Sie, wer wir sind? Die Zukunft dieser Stadt, das sind wir! Ist Ihnen das eigentlich klar? Und wie soll unsere Stadt bitte schön eine Zukunft haben, wenn Arsch und Hirn ihrer zukünftigen Elite mit Eisplatten bedeckt sind, he? Und mit irgendwas muss man sich schließlich aufwärmen! Masturbation ist nichts weiter als eine billige Möglichkeit, Wärme und Wohlbefinden zu erzeugen. Also kommen Sie uns nicht mehr mit Ihren Predigten, verstanden? Die verfangen bei uns nicht.«
    Die Vermieterin macht Augen, so groß wie Untertassen.
    Tommaso lässt nicht locker: »Wir versuchen hier, Italien neu aufzubauen.«
    Die Vermieterin dreht sich um und geht.
    Ich warte, bis ihre Schritte auf der Treppe verklungen sind. »Ich fasse es einfach nicht, was du da gerade gesagt hast.«
    Tommaso setzt sich wieder. »Was denn?«
    »Das, was du da soeben von dir gegeben hast.«
    Er lächelt: »Wir sind die Realität, mein lieber Simone. Wir schaffen sie, mit unserer Sichtweise. Was vorher war, existiert nicht mehr.«
    Am selben Abend geht Tommaso nach dem Essen mit seinen Arbeiterfreunden noch was trinken. Er lädt mich ein mitzukommen, aber ich lehne ab. Ich hülle mich in die Decken, setze mich ans Fenster und betrachte stundenlang die Berge und den sich herabsenkenden Nebel. Ich existiere, sobald mich jemand ansieht. Unser Vater hat meine Existenz ermöglicht, mit seiner Stimme und seinen Blicken. Dasselbe gilt für Gabriele.
    Flüsternd deklamiere ich: Schma Jisrael adonai elohejnu adonai echad. Keine Ahnung, warum, aber ich sage die Worte auf.
    Als ich vom Schlaf übermannt werde, schlüpfe ich ins Bett. Ich höre die Holztreppe knarren. Die Tür geht auf, und Tommaso kommt herein. Jacke, Hemd, Hände, Kinn und Mund sind blutbesudelt.
    Ich stehe auf, um ihm zu helfen: »Was ist passiert?«
    »Ich bin auf dem Glatteis ausgerutscht. Ich glaube, ich habe mir die Nase gebrochen.«
    »Du musst ins Krankenhaus.«
    »Nein. Warten wir, bis die Blutung

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