Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Doch stattdessen sagte er: »Auf der Insel von Robinson Crusoe. Weißt du, wo die liegt?«
»Nirgendwo«, erwiderte ich. »Die ist bloß erfunden.«
»Sie liegt zwanzig Seemeilen vor der Küste Venezuelas, unweit des Orinoco-Deltas. Das Hinterland ist bergig, und ein Tal teilt es in zwei Hälften. Die Insel ist fruchtbar und von Stränden gesäumt, von endlosen Sandstränden. An der Nordostküste bildet die Mündung eines kleinen Flusses einen natürlichen Hafen. Es gibt dort Ziegen, aber vor allem zahlreiche Vogelarten«, sagte er, nippte an einem Glas mit eingeschmolzenen Silberfäden, das Kräuterlikör enthielt, und rauchte. Ich verlor mich im Hall seiner Stimme. »Papageien, Falken, Gürteltiere und Schildkröten. Hasen. Das Wetter ist nicht besonders: Von Mitte Februar bis April und von Mitte August bis Oktober regnet es, den Rest des Jahres brennt die Sonne unerbittlich vom Himmel. Aber wenn es Abend wird, kann man sich in der Trockenzeit in der Hängematte ausstrecken, nach den hellsten Sternen am Firmament suchen und warten, bis sie ins Meer fallen: ein Ort, an dem es einem vermutlich nie langweilig wird«, sagte er. »Weißt du, was Robinsons Glück war?«
»Was denn?«
»Dass er wusste, wie man seinen Kopf benutzt. Und seine Hände.« Er zeigte mir die seinen. »Wie man Holz bearbeitet, Blätter und Steine.«
»Ich könnte nicht mal Feuer machen.«
»Als Kind habe ich Materialien geliebt. Alles kann sich verwandeln.«
Diese abendlichen Fantastereien entwickelten sich zu einem lieb gewordenen Ritual. Er beschrieb Ozeane und Berge, schilderte mir detailliert Mittelerde und den Düsterwald, Rohan und Gondor, Narnia und Terebinthia, die Insel von Mompracem und die Kalten Höhlen, das Land der Houyhnhnms und Camelot. Vermutlich hat er alles erfunden, und nur die Namen waren ihm aus Jugendbüchern in Erinnerung geblieben. Vielleicht aber auch nicht, egal: Fest steht, dass ich danach in einen sanften Schlaf hinüberglitt. Meine Träume bevölkerten sich mit wechselnden Bildern, die bei Tagesanbruch in den Wänden verschwanden. Hatte ich schließlich die Augen aufgeschlagen und die Trägheit aus meinen Armen und Schultern verscheucht, sprang ich begeistert aus dem Bett.
Es kam gar nicht mal selten vor, dass ich Isacco und Luna in solche Fantastereien miteinbezog, ausgehend von den Orten, die Großvater mir am Vorabend beschrieben hatte. Die genaue Erforschung von Colle Ferro und Umgebung war zu meiner Mission geworden, und zwar anhand von beiläufigen Bemerkungen, von Spuren, die antike Zivilisationen unter dem Moos hinterlassen hatten, und von ausgedehnten Bädern im See. Seit wir von den gefluteten Häusern erfahren hatten, sahen wir ihn mit ganz anderen Augen: Er war nicht mehr nur ein normaler Wasserspeicher, sondern ein Becken voller rätselhafter Ereignisse. Das Kräuseln der Wellen ließ auf magnetische Kräfte schließen, ihr Aufblitzen auf finstere Existenzen. Wir sprangen abwechselnd hinein, die Taucherbrille von Lunas Vater fest um den Kopf gezurrt, in der Hoffnung, Ruinen zu entdecken. Aber wir fanden nichts.
Am 24. Dezember 1968 befanden sich die amerikanischen Astronauten Frank Borman, Bill Anders und James Lovell auf der Umlaufbahn des Mondes. Sie waren die Ersten, die die Erdumlaufbahn verließen, die Ersten, die um unseren Satelliten kreisten und seine dunkle Seite sahen. Denn ihr galt ihre Aufmerksamkeit, der dunklen Seite des Mondes. Drei Umkreisungen lang betrachteten sie die Mondoberfläche durch die Bullaugen der Kapsel und erwarteten sich Gott weiß was, aber die eigentliche Überraschung kam erst noch: Während der vierten Umkreisung schnitt das Aufnahmegerät an Bord folgenden Satz des Kommandanten Borman mit: »O mein Gott, schaut euch dieses Bild da an!«
Sie waren aufgebrochen, um den Mond zu suchen, und hatten die Erde gefunden. Zum ersten Mal sah ein Mensch sie aufgehen. Die drei Astronauten schafften es gerade noch, ein paar Fotos zu machen: Eines davon ist das historische Foto vom Erdaufgang von Bill Anders.
Manche Sachen passieren einfach, so wie damals, als einer der drei alten Männer von der Bank eines Spätnachmittags Ende Juli in sich zusammensackte und seinen Kameraden gerade noch Gelegenheit gab, seinen Fall zu dämpfen, sodass er sich nicht den Kopf anschlug. Aber er war bereits tot: ein Herzinfarkt. Es war derjenige, der mich immer grüßte, indem er seinen Hut lüftete. Kurz zuvor war er noch bei Signora Rosa gewesen und hatte Brot gekauft. Die Tüte war ihm
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