Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
ersten Plastikski weichen, dass Steigeisen nicht mehr geschweißt, sondern gestanzt werden, Seile nicht mehr aus Hanf, sondern aus Nylon sind. Ich verbringe viel Zeit im Hochgebirge, und wenn ich Ausgang habe, begleite ich Unterführer aus dem Süden, die zum ersten Mal Schnee sehen.
Eigentlich darf ich das nicht. Es ist uns Gebirgsjägern verboten, auf eigene Faust Gletscher zu besteigen, aber niemand sagt etwas.
Elena und ich schreiben uns viel. Ihre Briefe sind ebenso hinreißend wie brillant, sie zeigen ihre Energie, ihren Charakter. Doch wir können uns kaum sehen.
Ich packe für meine Rückkehr. Meine Kameraden lassen mitgehen, was nicht niet- und nagelfest ist: gebrauchte und neue Ausrüstungsgegenstände, Testmaterial. »Los, nimm schon! Später, als Zivilist, kannst du solche Sachen mit der Lupe suchen.« Ich klaue nichts. Ich marschiere zum Bahnhof und nehme den Zug.
In Ivrea gehe ich zuerst zu Signora Ramella, um meine Tasche bei ihr abzustellen und sie zu bitten, mir ein Zimmer zu suchen. Sie ist nicht da, auch nicht ihr Mann. Ich lasse die Tasche im Treppenhaus stehen und suche die Firma auf. Die Stadt ist seltsam leer, ich begegne nur wenigen Menschen.
Man begrüßt mich unerwartet herzlich, schüttelt mir die Hand, klopft mir auf die Schulter. Ich werde sofort wieder eingestellt. Es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Am nächsten Tag werde ich um neun erwartet. Ich bitte darum, nach Genua telefonieren, unsere Mutter anrufen zu dürfen. Ich wähle die Nummer. Das Telefon läutet ins Leere. Ich lege wieder auf, versuche es unter der Nummer des Studentenwohnheims, in dem Gabriele untergebracht ist. Auch dort läutet es durch.
Ich lege auf.
Es ist ein schöner Septembervormittag. Die Sonne knallt vom Himmel, aber der Wind, der Fallwind von den Bergen, macht die Hitze erträglich. Ich schwänzle um die Firma herum.
Ich treffe Professoressa Scaglioni. Sie erzählt mir sofort von den nächsten Kulturveranstaltungen. Vom Vortrag eines hochberühmten Psychotherapeuten, eines Österreichers, und von dem eines Journalisten. Ich verspreche ihr hinzugehen und verabschiede mich. Im Laufen entdecke ich ein vertrautes Gesicht.
»Davide!«, rufe ich.
Davide ist unser Cousin. Er wohnt in der Stadt, in Turin. Bei ihm haben unsere Mutter und ich gewohnt, als ich vor sieben Jahren die Aufnahmeprüfung in Ivrea gemacht habe.
Davide kommt taumelnd näher. Er begrüßt mich nicht, sondern sagt gleich: »Dich habe ich gesucht.«
»Mich?«
»Ich muss dir etwas sagen.« Er bleibt stehen, und seine Augen röten sich.
»Was musst du mir sagen?«
»Ich muss es dir sagen.«
Doch wieder bringt er kein Wort heraus. Eine dicke Träne kullert über seine Wange.
Ich packe ihn an den Schultern, schüttle ihn: »Davide!«
»Dein Bruder«, sagt er.
4. KAPITEL
Als Erstes begann ich, gemeinsam mit ihm aufzustehen. Das Rauschen der Dusche und das darauffolgende Türenschließen waren mein Wecker, sie erinnerten mich an meine Pflichten, und seitdem die Kellerwand eingestürzt war, gehörte auch ein gemeinsames Frühstück dazu. Ohne Redezwang, die Sätze blieben kurz und knapp. Aber das »Guten Morgen!« versicherte uns jeweils, dass wir für den anderen da waren. Darauf folgten Spaziergänge sowie das, was er Besorgungen nannte: Brot holen oder zu einer bestimmten Uhrzeit Cescos Käselaibe zur Piazza bringen, wo uns bereits ein Händler erwartete, der sie auf verschiedenen Märkten in der Umgebung verkaufte. Er holte sie mit einer Ape Piaggio aus den sechziger Jahren ab. Als wir ihm zum ersten Mal begegneten, beschrieb er sie mir in allen Einzelheiten, wobei er besondere Betonung auf den 175-Kubik-Motor und den trapezförmigen vorderen Scheinwerfer legte, der auf dem Schutzschild montiert ist statt an der Stoßstange.
Wenn ich mit meinem Großvater Besorgungen machte, bestand das Problem darin, dass die Leute sein Schweigen als unerschöpfliche Zuhörbereitschaft deuteten. Und so konnte es, um nur ein Beispiel zu nennen, bei einem ganz normalen Brotkauf passieren, dass wir unter einer regelrechten Wortlawine begraben wurden, die vom Thema Mülltrennung bis zu den gestiegenen Preisen bei Brühwürfeln reichte. Mir fiel auf, dass man Großvater zwar für eine Art verrückten Einsiedler hielt, sich aber trotzdem insgeheim in ihm wiederzuerkennen glaubte. Ob das nun an der ihm unterstellten Verrücktheit lag (einen Verrückten kann man immer der Lüge bezichtigen) oder an dem Bedürfnis nach einem vorurteilslosen Zuhörer:
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