Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
um.
Elena liegt auf einer Rollbahre, zwei Schwestern schieben sie in ein Zimmer. Im Arm hält sie ein in weiße Decken gewickeltes Bündel. Sie ist erschöpft und gleichzeitig euphorisch, ihre Haare kleben klatschnass an der Stirn. »Darf ich vorstellen?«, sagt sie. »Simone, das ist Agata. Agata, das ist dein Papà.«
Sie überreicht mir das Bündel.
Ich drücke es an mich, schlage die Decken zurück, um ihre Nase, ihre Augen zu betrachten. »Agata?«
Elena nickt, streicht mir übers Bein: »Unsere hinreißende Tochter.«
5. KAPITEL
»Sie waren zahlreich erschienen, denn in der Stadt kannten ihn alle, den Herrn der Reste. Die Villenbesitzer grüßten ihn beim Verlassen ihres Grundstücks mit dem Wagen, die Elektrizitätswerkangestellten beim Schichtwechsel, die Verkäuferinnen im Einkaufszentrum. »Ciao!«, riefen die verschlafenen, verfrorenen Kinder dem Herrn der Reste zu, wenn sie frühmorgens zur Schule gingen. Die Kleinsten strichen mit der Hand über das hintere Wagenfenster ihrer Eltern. Die Größeren riefen »Huhu!«, zeigten mit dem Kinn auf ihn und schubsten sich dann wieder gegen Gittertore und Laternenmasten. Niemand verweigerte dem Herrn der Reste einen Stuhl, und ein Stuhl war das Einzige, worum der Herr der Reste je bat, um darauf manchmal am Straßenrand einzunicken. Deshalb waren sie zahlreich erschienen an jenem Novembernachmittag, umgeben von nassem Laub, das die Gullys verstopfte, und von einem Himmel, der dem Wind freie Bahn ließ. Alle kannten sie den Herrn der Reste, und niemand, wirklich niemand hätte ihn allein gelassen. Es hieß, er sei ein bedeutender Chemiker gewesen. Briefträger in einer anderen Stadt. Obstverkäufer, Antenneninstallateur, Pirat. Es hieß, er sei im Gefängnis gewesen, aber das glaubte niemand. Und selbst wenn: Das Leben hatte ihn frei gemacht. Fest stand nur, dass der Herr der Reste vor vielen Jahren eine soziale Kooperative gegründet hatte, die sich um das Recycling von Gebrauchtgegenständen wie Wecker, Möbel, Hefte kümmerte. Er kam vorbei, um sie aus den Innenhöfen abzuholen, wo man sie hingeworfen hatte. Er sammelte Elektrogeräte, Computer, Drucker …«
»Als du noch klein warst, gab es da schon Computer und Drucker?«
»Zeno, was habe ich dir soeben gesagt?«
»Entschuldige, erzähl weiter.«
»Wenn er konnte, reparierte er sie und verkaufte sie an Leute weiter, die sich die neuesten Produkte nicht leisten konnten. Wenn nicht, zerlegte er sie und trennte die Materialien: Eisen, Plastik, Elektronikchips, Kupfer. Die brachte er dann zum Wertstoffhof. Er sammelte Altpapier, auf das Kinder und Kindermädchen pastellfarbene Flamingos und Wale gezeichnet hatten, Haftnotizen mit Einkaufslisten, Umschläge, in denen Liebesbriefe und Kündigungsschreiben gesteckt hatten und jetzt gar nichts mehr, Strom- und Gasrechnungen, Zeitschriftenausrisse mit Wolkenkratzern. Er holte Weinflaschen ab, die von Festen übrig geblieben waren, Dosen und Behälter, die einst Linsengemüse, saure Sahne und Schuhcreme enthalten hatten. Er aß von Supermärkten aussortierte Lebensmittel, die das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hatten, aber durchaus noch genießbar waren. Er fuhr durch die Straßen der Stadt, ohne eine einzige Staubwolke zu hinterlassen, mit einem zerbeulten Lieferwagen, den jemand gegen einen Toaster und einen Wecker getauscht hatte, der zu jeder vollen Stunde einen anderen Vogelgesang anstimmte. Um drei war die Kohlmeise dran, um sechs die Schleiereule und um neun der Buchfink.
Auf dem blau-silbernen Lieferwagen prangte sein Firmenname: ›Zeitreisen‹.«
»Zeitreisen?«
»Zeitreisen«, wiederholte Großvater und zog ebenso gierig wie zerstreut an seiner Pfeife. »In jener Stadt, die jeden Tag erwachte, als wäre sie soeben erst gegründet worden, in jener Stadt, die sich nur an der Zukunft orientierte und ihr langes Haar in der Sonne kämmte, in jener Stadt, die pausenlos Hüllen und Verpackungen aufriss, war der Herr der Reste der Einzige, der sich mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigte.
Weil er unheilbar an Schlaflosigkeit litt, lief er nachts durch die Gassen am Hafen, nahm Wege durch den Park, die von Kastanienwurzeln oder Fußballplatzumzäunungen unterbrochen wurden, und wühlte im Licht der Laternen neugierig in Abfallkörben. Fand er einen Stadtplan, den ein Tourist liegen gelassen hatte, nahm er ihn und ließ sich auf einer Holzbank nieder, denn der Herr der Reste liebte Bänke, vor allem die aus Holz mit der gewölbten Lehne.
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