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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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aber der kann nichts feststellen. Er sagt, es gehe mir gut, ja ausgezeichnet. Elena und ich fahren nach Genua, damit meine Mutter sehen kann, wie die Schwangerschaft voranschreitet. Elena hat einen dicken Bauch. Nach dem Mittagessen lasse ich die beiden allein; sie sitzen mit einer Decke auf den Knien im Wohnzimmer und plaudern. Ich gehe auf den Staglieno-Friedhof. Die Gräber meines Vaters und Bruders sind ein blühender Garten. Meine Mutter geht jeden Tag hin, um sie zu pflegen, und wenn sie verhindert ist, beauftragt sie eine Nachbarin. Ich verweile ein paar Minuten am Grab, ohne an etwas zu denken, ohne zu beten, und gehe dann wieder.
    Ich mache einen langen Spaziergang, nehme eine Treppe, die parallel zu den Bahngleisen verläuft. Sie führt zu einer alten Steinbrücke. Auf der Brücke bleibe ich stehen. Ich mache kehrt, klettere über einen Metallzaun auf die Gleise. Es gibt vier davon. Ein Hund, ein kränklicher, verwahrloster Mischling, sieht mich an. Ich bücke mich, lege die Hand auf eine Gleisschwelle, dann auf die Schiene. Sie ist warm. Es muss erst vor Kurzem ein Zug vorbeigekommen sein. Der Mischling nähert sich, trottet unschlüssig auf mich zu. Ich habe Bonbons in der Tasche.
    Ich wickle eines aus und werfe es ihm zu. Er schnuppert misstrauisch daran, scheint es zu verschmähen, nimmt es dann aber doch und schluckt es mit unnötig lautem Zähneknirschen hinunter. Ich bin noch da, ganz in der Nähe der Gleise. Ich lege erneut die Hand auf die Schiene; sie bebt. Erst ist es nur ein leichtes, undefinierbares Vibrieren, das immer heftiger wird. Ich stehe nicht auf, überlege, aus welcher Richtung der Zug wohl kommt. Ich befinde mich in einer Kurve, und die Gleisstrecke, die ich überblicken kann, misst höchstens zwei- bis dreihundert Meter. Jetzt höre ich Lärm, einen Pfiff, die Reibung der Räder, das Quietschen von Metall. Ich umklammere die Schiene, so fest ich kann, wieder ein Pfiff, diesmal deutlich näher. Der Lärm ist mittlerweile ohrenbetäubend, er hüllt mich regelrecht ein: ein Luftzug, der Triebwagen, Waggons, ein bunter Streifen, Stille.
    Ich falle rücklings ins schmutzige, verdorrte Gras. Ich keuche. Der Zug kam auf dem Nebengleis. Die Vibrationen im Arm setzen sich im Rest meines Körpers fort.
    Ich sperre die Haustür auf und lege die Schlüssel auf die Kommode. Aus dem Wohnzimmer höre ich Frauenstimmen, sie duften nach Blumen und Licht.
    »Wo warst du?«, fragt Elena. »Wir dachten schon, du kommst nicht mehr.«
    Meine Mutter steht auf und schenkt mir Karottensaft ein. »Während du draußen herumgestreunt bist, haben wir eine Liste mit Namen aufgestellt. Willst du sie hören?«
    »Natürlich«, sage ich.
    »Es sind Jungen- und Mädchennamen. Womit sollen wir anfangen?«
    »Mit den Jungennamen. Es wird bestimmt ein Junge.«
    Ich gehe zu Elena, die am Fenster sitzt und von einem leuchtenden Nebel eingehüllt ist, den die Vorhänge im ganzen Raum versprühen. Ich umarme sie von hinten, vergrabe mein Gesicht in ihrem Haar. Ich schnuppere an ihrer Kopfhaut.
    »Mein Kind«, sage ich.
    *
    Ich befinde mich gerade in einer der Werkstätten der Lampenfabrik. Der Mann mit den Bildern ist mittlerweile einer meiner wichtigsten Kunden und hat mir weitere Aufträge vermittelt.
    Ich beobachte den Prozess des Einfärbens, draußen schüttet es in Strömen: Wind, Blitz und Donner lassen die Fensterscheiben der Fabrik erzittern. Eine der Sekretärinnen kommt wild gestikulierend angerannt und sagt: »Dottor Coifmann, kommen Sie ans Telefon, Ihre Frau ist dran!«
    Es ist nicht meine Frau, sondern mein Schwiegervater, aber es geht um Elena. »Die Wehen haben gerade eingesetzt. Beeil dich!«
    »Ich bin vierhundert Kilometer weit weg«, sage ich, »und mit dem Zug unterwegs.«
    »Na, dann lauf zum Bahnhof!«
    »Wie geht es ihr?«, frage ich.
    »Gut.«
    »Und dem Kind?«
    »Gut.«
    Ein Auto bringt mich zum Bahnhof, dem Fahrplan entnehme ich, dass der nächste Zug in einer Stunde geht. Ich suche den Wartesaal auf, zähle die Steinplatten. Ich lese mir die Gepäckaufbewahrungsbestimmungen durch, haste auf dem Bahnsteig hin und her. Im Waggon renne ich im Korridor auf und ab, halte mich am Gepäcknetz fest und beuge mich vor, um aus dem Fenster zu schauen. Ich betrete das Krankenhaus, nehme mehrere Stufen auf einmal: Lobby, erster Stock, zweiter Stock, Entbindungsstation. Ich sehe meine Schwiegereltern.
    »Wo ist sie?«, frage ich.
    Ich höre, wie jemand meinen Namen ruft. »Simone.«
    Ich drehe mich

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