Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
gegangen.« Ihre Miene verdüsterte sich. Ihr Blick wanderte zu meinen Knien.
Als ich ihn auffing und mit dem meinen festhielt, spürte ich seine Eindringlichkeit und Besorgtheit. »Bist du wirklich fast ertrunken?«
Ich nickte. »Wenn Isacco nicht gewesen wäre …«
»Wer ist Isacco?«
»Ein Freund.«
»Das tut mir leid.«
»Das muss dir nicht leidtun«, sagte ich. »Er ist nicht so blöd, wie er aussieht.«
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Das habe ich nicht gemeint.«
Ihr Lachen war einfach faszinierend. Ich beruhigte mich.
»Und dann hast du mich angesehen«, fuhr ich fort, »als ich nach Colle Ferro gekommen bin. Ich stand auf dem Balkon und du unten auf der Straße, auf dem Lehmpfad. Ich bin mir sicher, dass du mich angeschaut hast. Aber als ich dich gegrüßt habe, hast du keine Miene verzogen.« Ich ahmte ihre Haltung nach. »Das weißt du doch noch, oder?«
»Das stimmt nicht!« Sie wirkte beleidigt. »Ich habe dich noch nie in meinem Leben gesehen.«
»Aber ich habe dir doch noch ein Zeichen gegeben und den Arm gehoben.«
»Und, habe ich darauf reagiert?«
»Nein, eben nicht.«
»Dann weil ich dich nicht gesehen habe.«
»Aber ich war doch da, auf dem Balkon!«
»Auf welchem Balkon?«
Ich streckte den Arm aus und deutete auf Großvaters Haus.
Sie fasste sich aufgeregt mit beiden Händen an die Brust. »Das Haus vom alten Simone?«
»Du kennst meinen Großvater?«
»Wer bist du?«
»Woher kennst du ihn?«
»Meine Schwester hat mir von ihm erzählt und mich gebeten, ihm etwas auszurichten: dass sie den Film gesehen hat.«
»Welchen Film?«
»Siehst du!« Sie wurde traurig. »Leider habe ich den Titel vergessen, und meine Schwester ist gerade in Afrika, sodass ich sie nicht danach fragen kann.«
»Mein Großvater hat nicht mal einen Fernseher!«, sagte ich. »Woher kennen sie sich?«
»Wir kommen jeden Sommer her. Wir wohnen bei meinem Cousin in Servo, in der Ortschaft da unten.« Sie zeigte auf den linken Teil des Tals.
Großvaters Leben war deutlich abwechslungsreicher als gedacht. »Ich heiße Zeno«, sagte ich.
»Irene.«
»Möchtest du ihn besuchen?«, fragte ich. »Vielleicht fällt ihm der Titel des Films wieder ein?«
»Ich muss jetzt gehen. Meine Eltern warten bestimmt schon an der Autobahnauffahrt.«
»An welcher Autobahnauffahrt?«
»An der vor den Grotten. Meine Eltern wandern gern. Wenn sie eine Tour machen – und ich hasse diese Touren! –, gehe ich an den See. Aber sie bleiben nie lange weg. Nächstes Mal komme ich dich besuchen, einverstanden? Dann fragen wir ihn gemeinsam nach dem Film. Allein ist mir das peinlich.«
Ich nickte. Sie verabschiedete sich und verschwand. Mir fiel ein, dass ich sie noch gern nach dem komischen Kleid gefragt hätte, das sie immer trug, aber sie war schon zu weit weg.
Ich beschloss, dass ich die Grotten aufsuchen musste. Anselmos Geschichte von der Quelle des ewigen Lebens war mit Sicherheit Quatsch, genauso wenig war Irene ein Geistermädchen. Aber man kann ja nie wissen. Außerdem hatte ich ohnehin nichts Besseres vor.
Isacco war leicht zu überreden. Gemeinsam gingen wir zu Luna. Ihr Vater spielte gerade Schach gegen sich selbst. Er saß am Tisch und hatte die Brille in seine Hemdtasche gesteckt. War sein Gegner an der Reihe, drehte er das Schachbrett einfach um. Ihre Mutter saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa und las in einer Zeitschrift – in derselben Haltung wie Luna, wenn sie sich nach dem Abendessen mit einem Aufsatz über Neue Methoden zur einfachen Untersuchung der Makula oder über Prognosen bei einer Retinopathia centralis serosa zurückzieht.
Ich schlug umgehend vor, die Höhlenforscherausrüstung von Onkel Alessandro mitzunehmen: Helme, Seile, Taschenlampen. Luna weigerte sich entschieden.
»Ihr habt gehört, was mein Vater gesagt hat! Die Grotten sind gefährlich. Außerdem: Wollt ihr, dass er mich umbringt? Könnt ihr euch vorstellen, was hier los ist, wenn er entdeckt, dass ich seine Sachen geklaut habe?«
»Wenn sie gefährlich wären, hätte man sie längst geschlossen«, sagte Isacco.
»Genau das versucht mein Onkel ja zu erreichen!«
»Das sind Höhlenforscher aus der Stadt.«
»Was willst du denn damit sagen?«
»Ach, jetzt reg dich wieder ab.«
»Schluss damit!«, sagte ich. »Luna, wir tun nichts Gefährliches, einverstanden? Ich möchte mich dort bloß mal umsehen. Ich muss einfach, kapiert? Ich flehe dich an!«
Luna wurde wieder ernst und schwieg. Auf einem der Bäume
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