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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Dann suchte er darauf nach dem Weg, den die Touristen genommen hatten, nach den Straßen, die eingekreist, und den Sehenswürdigkeiten, die mit einem Pfeil versehen worden waren, und darunter nach der leblosen Asche eines inzwischen vergangenen Tages, der ausschließlich dem Gedächtnis von Digitalkameras überlassen worden war. Der Herr der Reste entfachte diese Asche zu neuer Glut: den caffè macchiato – ›Einen macchiato freddo bitte‹ –, der in der Bar im Zentrum bestellt worden war, den Souvenirmagneten, der am Stand vor dem Brunnen erworben worden war, denn bei dem schönen Wetter hatte man keine Lust gehabt, ins Museum zu gehen. Es war ein Tag, um im Gras zu sitzen und den Wolken nachzuschauen, um Rollschuh zu laufen und die Strandpromenade entlangzuspazieren. Sie waren zu fünft, zwei Erwachsene und drei Kinder, und mit dem Zug gekommen.«
    »Woher wusste er das?«
    »Es waren die Reste, die ihm das sagten. Vor Jahren hatte er eines Morgens zwischen Bananen- und Eierschalen ein Fotoalbum gefunden. Beim Durchblättern der Seiten aus schwarzem Karton hatte er eine rothaarige Frau erkannt, die ganz in der Nähe wohnte. Er hatte bei ihr geklingelt. ›Du hast dein Gedächtnis verloren‹, hatte er zu ihr gesagt. ›Was?‹, hatte sie erwidert. ›Du hast dein Gedächtnis verloren‹, hatte er wiederholt und ihr das Fotoalbum gezeigt. Die Frau hatte das grün bezogene Album genommen und betrachtet es wie einen Fakir, der gerade Glasscherben isst. Sie hatte es dermaßen langsam aufgeschlagen, dass man hätte meinen können, die Erde habe aufgehört, sich zu drehen. Sogar der Hund war verstummt. Dann hatte sie sich auf die Stufen vor ihrer Haustür gesetzt und die Seiten umgeblättert. Die Sonne war untergegangen, er hatte die Außenbeleuchtung eingeschaltet und sich zu ihr gesetzt, allerdings eine Stufe hinter ihr, um zu sehen, bei welchen Fotos die Rothaarige am längsten verweilte: Sie, vor Felsen mit einem Kind auf dem Arm. Sie, auf einem Geburtstagsfest mit einer Schokosahnetorte. Sie und ein Mann, wobei sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt hatte. Kurz nach Mitternacht hatte der Herr der Reste dann schweigend zu erkennen gegeben, dass er jetzt gehen wolle, aber die Frau war plötzlich aufgesprungen und hatte gesagt: ›Nimm es mit.‹ ›Es sind deine Erinnerungen, sie gehören dir‹, hatte er erwidert. ›Das sind nicht meine Erinnerungen, sondern die meines Exmanns‹, hatte sie erklärt. ›Nimm sie wieder mit!‹ ›Sag mir, wo er wohnt‹, hatte der Herr der Reste gesagt und das mit grünem Stoff bezogene Album entgegengenommen. ›Keine Ahnung, wo der sich verkrochen hat‹, hatte die Frau gesagt, ›und das möchte ich auch gar nicht wissen. Wenn man seine Erinnerungen loswerden will, hat man auch das Recht dazu, oder etwa nicht?‹ Ein Krankenwagen war durch die Allee gerast.
    Der Herr der Reste hatte gewartet, bis die Häuser den Lärm des Martinshorns verschluckt hatten, und dann gesagt: ›Nein.‹«
    Großvater machte eine Pause, ging zum Fenster und öffnete es, um die Nacht hereinzulassen.
    »Sie waren zahlreich zu seiner Beerdigung erschienen, weil sie ihn alle kannten. Erinnerungsfetzen waren ihm anvertraut worden, damit er sie wieder zu neuem Leben erweckte. Ersatzteile, die Geräte und Maschinen in ihren Häusern, Büros und Garagen wieder funktionieren ließen, hatte er dem Staub und dem Vergessen entrissen. Hätte man die Stadt von Steckdosen, Leitungen und Luftschächten aus betrachtet, hätte man sehen können, dass sie zum kollektiven Gedächtnis geworden war, zu einem einzigen Organismus aus Gebrauchtgegenständen, die sie eines Tages alle benutzt hatten: Der Computer, auf dem der Kaufhausbesitzer sein Testament verfasst hatte, hatte dem Sohn des Gärtners dazu gedient, seine Magisterarbeit zu schreiben. Auf dem ehemaligen Lesesessel der Bürgermeistersgattin nahmen jetzt die Patienten im Wartezimmer des Hautarztes Platz. In der Wiege des Hautarztenkels schlief mittlerweile der Sohn der Frau mit dem Milchladen gegenüber der Kirche. Sie waren zu Tausenden zum Friedhof gekommen.«
    »Auch die Frau mit den roten Haaren?«
    »Ich denke schon«, sagte Großvater. »Auf seinen Wunsch hin wurde er direkt in der Erde bestattet, ganz ohne Sarg.«
    »Warum?«
    »Was das für eine Holzverschwendung gewesen wäre!«
    Während wir auf der Mauer des Pfarrhauses saßen und eine Fertiggranita tranken, erzählte ich Luna und Isacco von der Woche in Genua: vom Bed & Breakfast, von der Klinik,

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