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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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vom Aquarium: ein Eintauchen in die Familie, das mir heftige Kopfschmerzen beschert hatte. Ich hatte die Dekompressionszeit nicht beachtet und war zu schnell wieder aufgetaucht.
    Noch am selben Abend kletterte ich mit klopfendem Herzen auf den Monticello und wartete auf Neuigkeiten von der Transplantation. Alles gut, schrieb meine Mutter, alles gut. Aber ich glaubte ihr nicht. Wenn dem so wäre, wäre ich bei ihnen geblieben, hätte ich am Bett meines Vaters gesessen und mit ihm Burraco gespielt. Es lauerten mit Sicherheit versteckte Gefahren hinter diesen Worten, denen ich auf den Grund kommen musste. Doch dabei halfen mir weder die Hechtsprünge in den See noch die Kabbeleien zwischen Luna und Isacco. Großvaters Gutenachtgeschichten lenkten mich zwar etwas ab, schlichen sich aber auch in meine Träume ein. Wenn ich dann morgens aufwachte, war ich müder als vor dem Einschlafen.
    Eines Nachmittags, als ich gerade vom Monticello zurückkehrte, warf ich kurz vor dem Klettergarten einen Blick auf den Stausee und entdeckte es zwischen den Bäumen und dem dunstigen See: das Geistermädchen.
    Sie saß am Ufer und ließ Steine übers Wasser hüpfen. Ich eilte den terrassierten Hang hinunter und stieß eine Minute später ins Walddickicht vor. Der See entzog sich meinen Blicken, und ich war mir sicher, dass sie verschwunden wäre, wenn ich zwischen den Steineichen auftauchen würde, so wie die anderen Male auch. Sie witterte das, hatte eine tierisch gute Nase. Doch mir blieb nicht die Zeit, mich gegen den Wind an sie heranzupirschen. Ich rannte atemlos weiter, streifte Stämme und sprang über Kastanienwurzeln. Ein Buntspecht flog erschreckt auf. Ich stolperte und stürzte, stand aber sofort wieder auf. Während des Laufens ignorierte ich bewusst, wovor ich allen Grund gehabt hätte, mich zu fürchten. Welches Gesicht das Geistermädchen wohl hatte? Sie war ertrunken. Erwarteten mich verwestes Fleisch und leere Augenhöhlen, an denen die Fische geknabbert hatten? Als kleiner Junge hatte ich Angst vor dem Keller gehabt, weil es dort nach modrigem Laub roch. Ich dachte, das sei der Gestank des Ungeheuers, das dort hause.
    Ich schoss wie ein Verrückter ans Ufer, war völlig unvorbereitet.
    Doch sie war da.
    Der Wald hatte mich mit der Heftigkeit eines Luftdruckgewehrs ausgespuckt. Als ich meinen Lauf abbremste, musste ich wild mit den Armen fuchteln, sonst hätte ich das Gleichgewicht verloren.
    Sie hockte fünf, sechs Meter von mir entfernt am Ufer und hatte mir den Rücken zugewandt. Ohne sich zu erheben, drehte sie den Kopf. Ich wappnete mich gegen einen Anblick, der nicht für meine Augen bestimmt war, dachte an das Ungeheuer im Keller, in der festen Überzeugung, dass sich meine Befürchtung bewahrheiten und ich auf einen Schlag um meine geistige Gesundheit gebracht würde. Das Geistermädchen drehte den Kopf, legte ihn schräg und lächelte: Sie roch nach gerösteten Haselnüssen und Zucker.
    Sie hatte helle Haut und rote Wangen, die schwarzen Haare wurden von einem Haarreif zurückgehalten.
    »Ciao«, sagte sie.
    Sie wirkte irgendwie geistesabwesend. Aus der Ferne hatte ich sie für ein Kind gehalten, weil sie klein war – kleiner als ich –, aber aus der Nähe betrachtet musste sie etwa in meinem Alter sein.
    »Ciao«, wiederholte sie, weil sie dachte, ich hätte sie nicht gehört.
    »Es gibt dich also doch!«
    Sie erhob sich. »Wie meinst du das?«, fragte sie nach wie vor lächelnd. »Wieso sollte es mich nicht geben?«
    »Du bist verschwunden. Zweimal.« Ich reckte Mittel- und Zeigefinger in die Hö he, um die Fakten zu unterstreichen. »Einmal im See – du bist ins Wasser gegangen und dann verschwunden.«
    »Entschuldige, aber ich verstehe nicht.« Sie hob den Kopf, um ihn dann zur anderen Seite zu neigen. Sie schien nach einer passenden Haltung zu suchen, um sich ein Bild von mir zu machen.
    »Aber wenn ich es dir doch sage! Ich habe dich gesehen. Es hat geregnet, und ich habe beobachtet, wie du ins Wasser gegangen bist. Ich war da oben, siehst du? Auf dem Trampelpfad. Aber als ich kam, warst du weg, und das weiße Haarband trieb im Wasser. Als ich es herausfischen wollte, bin ich fast ertrunken.«
    Das Lächeln wurde breiter. »Klar«, sagte sie. »Als ich mich nach dem Schwimmen wieder angezogen habe, hat mir der Wind das Haarband aus der Hand gerissen. Ich habe versucht, es mit einem Stock herauszufischen, leider vergeblich. Als es dann anfing zu regnen, dachte ich, Haarbänder gibt es genug. Also bin ich

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