Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
zu. Ich schwitze, weiß nicht, ob das, was ich sage, intelligent klingt oder nicht. Nachdem ich ihm meine Einschätzung vorgetragen habe, lehne ich mich zurück, lege die Hände in den Schoß und warte. Schweigend mustern wir uns eine Weile.
»Sie haben mich überzeugt«, sagt er schließlich.
Er schlägt mit den Händen auf den Tisch, ein Knall, der wie ein Gong durch die Flure hallt. Er erhebt sich und geht einmal um den Tisch herum. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich, dass Sie dasselbe mit den anderen Fertigungsstraßen tun. Wie viele Tage brauchen Sie?«
Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich nenne irgendeine Zahl.
»Wie viel wollen Sie?«, fragt er.
Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich nenne irgendeine Zahl.
Er überschlägt das gesamte Beraterhonorar und sagt, das sei zu viel, das könne er sich nicht leisten, und reduziert es um ein Viertel.
»Einverstanden«, sage ich.
Als ich wieder nach Hause komme und Elena umarme, sagt sie: »Du zitterst ja!«
»Ich zittere vor Glück. Ich habe Arbeit. Als Unternehmensberater.«
Ich rufe meine Mutter in Genua an. Ich erzähle ihr davon, erkläre ihr, dass man als Unternehmensberater eine wichtige Position bekleidet, dass man hoch angesehen ist und in dem Beruf viel Geld verdienen kann.
»Müsstest du dafür keinen Universitätsabschluss haben?«, wendet sie ein.
»Doch«, sage ich. »In Betriebswirtschaft. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Die Firma interessiert nur, dass ich halte, was ich verspreche.«
»Aber wenn man dich nach deinem Abschluss fragt, was dann?«, fragt meine Mutter seufzend.
»Nichts, Mama«, sage ich. »Was soll mir schon passieren?« Trotzdem glaube ich nicht an das, was ich sage. Alle Angestellten des Mannes mit den Bildern haben mich Dottore genannt, und ich habe nichts dagegen eingewandt. Ich habe sie nicht bewusst getäuscht, habe nie behauptet, über einen Doktortitel zu verfügen. Aber ich habe sie auch nicht korrigiert. Ich lasse mich neben dem Telefon zu Boden sinken.
»Ich ruf dich zurück, Mama«, sage ich.
Jetzt muss ich um jeden Preis verhindern, dass ich auffliege.
Elena und ich werden Mitglied im Alpenverein. Nur wenn wir bergsteigen gehen, fühle ich mich ebenbürtig. Ich kann bergsteigen, fühle mich dazu berechtigt. Wenn ich möchte, kann ich auch allein bergsteigen gehen, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Oft wache ich sonntags früh auf, wenn alle anderen noch schlafen. Elena liegt reglos neben mir und umarmt ihr Kissen. Sie wälzt sich nicht ruhelos hin und her und wird noch nicht von ihren Träumen geplagt, die kurz vor dem Aufwachen kommen, wie sie mir erzählt hat. Mineralische, staubige Träume. Mit diesen Worten erklärt sie mir, der ich nie träume, was Träume sind. Manchmal schreibe ich ihr einen Zettel: Wir sehen uns zum Mittagessen! Ich stecke eine Wasserflasche in den Rucksack, der schon fertig gepackt hinter der Schlafzimmertür steht. Ich verlasse das Haus und hänge keine Stunde später in einer Wand oder bin auf einem Wanderweg unterwegs.
Deshalb haben Elena und ich uns im Club Alpino Italiano eingeschrieben.
Weil sie es nicht mag, wenn ich allein bergsteigen gehe. Wir freunden uns mit zwei weiteren Paaren aus Turin an. Mit dem Verein unternehmen wir Ausflüge in die Dolomiten, in den gesamten Alpenraum. Montagmorgens nach dem Frühstück lege ich nicht nur Jackett und Krawatte, sondern auch eine Maske an. Ich nehme den Zug und anschließend einen anderen, wechsle von einer Keks- zu einer Stofffabrik, von einem Reishersteller zu einem Verlagsauslieferer, von einem Schweinezüchter zu einer Bank. Ich sage zu allem Ja und Amen, anschließend renne ich jedes Mal auf die Toilette, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, damit ich nicht ohnmächtig werde.
Sobald ich den Auftrag angenommen habe, arbeite ich nur noch, um ihn abzuschließen, nicht aufzufallen. Ich muss effizient und gleichzeitig unsichtbar sein. Man darf mich nicht auf dem Flur sehen, darf sich nicht an mein Gesicht erinnern. An den Namen schon, der Name ist notwendig, er verschafft mir neue Aufträge. Aber ich möchte nicht auf der Straße wiedererkannt werden. Meine Auftraggeber sollen zufrieden sein: Zufriedenheit ist ein Anästhetikum. Im Lift fragt man mich nicht, in welches Stockwerk ich möchte. Man setzt sich an meinen Tisch, ohne um Erlaubnis zu fragen, zahlt für alle, aber nicht für mich. Manchmal entschuldigen sich die Leute. »Das macht nichts«, sage ich dann. »Das wäre ja noch
Weitere Kostenlose Bücher