Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer der Frauen

Der Sommer der Frauen

Titel: Der Sommer der Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia March
Vom Netzwerk:
zurückzukommen. Sie hatte ihn nicht zurückgerufen und war auch nicht zur Arbeit gegangen.
    Sie schuldete ihm eine Entschuldigung für ihr Benehmen. Dafür, dass sie eine ganze Woche nicht zur Arbeit erschienen war. Dafür, dass sie seinen Großmut wie selbstverständlich voraussetzte. All das musste sie ihm sagen. Das und noch viel mehr. Sie spürte förmlich, wie etwas in ihr aufwallte und ans Licht wollte, auch wenn sie nicht genau wusste, was es war. Sie wusste nur, dass sich unter ihrem Herzen ein Druck aufbaute, der irgendwie mit Henry zu tun hatte.
    Sie zog gerade ihr Handy heraus, um ihn endlich anzurufen, um endlich irgendetwas zu sagen, als das Telefon klingelte: Im Display erschien die Nummer 207 - 555 - 2501 .
    Johns Eltern!
    June starrte mit offenem Mund ihr Telefon an. Einen Augenblick lang war sie unfähig, sich zu bewegen. Dann riss sie sich zusammen. Wenn sie nicht bald abhob, würde die Mailbox anspringen.
    «Hallo?», sagte sie mit zitternder Stimme.
    «June? Hier spricht Eleanor Smith. Die Mutter von John.»
    June spürte, wie ihre Beine sich in Pudding verwandelten. Sie war froh, dass sie saß.
    «Wir sind völlig fassungslos», sagte Eleanor. «Johns Vater und ich. Wir waren fast den ganzen Sommer über verreist und sind erst gestern zurückgekehrt. Wir haben Ihren Anruf und auch Ihre Post erhalten, aber die Neuigkeit von einem Kind, einem Enkelkind, mussten wir erst mal ein bisschen verdauen. Ich hoffe, es ist okay, dass wir uns noch einen Tag Zeit gelassen haben.»
    June konnte kaum sprechen, so groß war der Frosch in ihrem Hals. Eleanor Smith klang warmherzig und liebenswert. «Natürlich!»
    «In dem Moment, als wir das Foto von Ihrem Jungen sahen, wussten wir, dass er Johns Sohn ist. Er sieht ihm so unglaublich ähnlich –». Eleanor Smith fing an zu schluchzen.
    «Ich weiß», sagte June. «Die gleichen wunderschönen grünen Augen und die schwarzen Haare.»
    «Und etwas in seinem Gesichtsausdruck.»
    Ja,
dachte June,
und etwas in seinem Gesichtsausdruck.
    «Wissen Sie?», sagte Eleanor. «Sie haben uns sehr dabei geholfen, endlich einem kleinen Geheimnis auf die Spur zu kommen, einer Sache, auf die wir uns bisher keinen Reim machen konnten. Eine der Krankenschwestern hat uns erzählt, dass John, ehe er starb, noch einmal kurz zu Bewusstsein kam. Dabei sagte er nur ein einziges Wort: ‹Juni›. Wir hatten keine Ahnung, was er damit meinte, schließlich war November, als er starb. Aber er meinte Sie, Juney.»
    June keuchte. Sie fing an zu weinen.
    Eleanor Smith ließ ihr ein wenig Zeit. «Ich bin so froh, dass Sie uns geschrieben haben», sagte sie dann. «Wir sind so glücklich darüber, dass Sie uns endlich gefunden haben.»
    «Ich auch», flüsterte June.
    Sie waren sich schnell einig, dass es noch viel mehr zu besprechen und zu sehen gab – Charlie, zum Beispiel –, und sie verabredeten sich für den nächsten Tag. So blieb June wenigstens nicht allzu viel Zeit, nervös zu werden.
    *****
    Freitagfrüh fuhren June und Charlie die I- 95 hinauf nach Bangor. June warf einen Blick in den Rückspiegel. Charlie war wieder mal in seinen Stammbaum versunken, den er behutsam auf dem Schoß hielt. Gestern Nachmittag hatten sie beide lange zusammen im Garten gesessen, und June hatte Charlie erzählt, dass sein Vater gestorben war und dass seine Großeltern sie zu sich eingeladen hatten. Charlie war aufgesprungen, hatte gerufen, er müsse sofort den Stammbaum weitermalen, und war ins Haus gerannt. Eine Minute später war er mit dem Plakat und seinem grünen Glücksstift zurückgekommen, hatte in einen Kreis neben dem Namen seines Vaters sorgfältig das Wort
Himmel
geschrieben und dann noch zwei neue Namen hinzugefügt:
Großeltern: Eleanor und Steven Smith
.
    Und jetzt waren sie auf dem Weg zu diesen Großeltern. Nach all den Jahren der Suche, die vor allem damals, als June merkte, dass sie schwanger war, so viel Zeit und Energie gekostet hatte und auch jetzt in den vergangenen Wochen noch einmal, fühlte es sich beinahe falsch an, einfach so in die Auffahrt von John Smiths Eltern einzubiegen. Das weiße Schindelhaus im neuenglischen Stil mit den ordentlichen Blumenbeeten und den blühenden Fensterkästen wirkte freundlich und einladend. Der Anblick trug dazu bei, Junes Nerven wenigstens ein bisschen zu beruhigen.
    Im selben Augenblick, als June und Charlie aus dem Auto stiegen, ging die Haustür auf, und ein älteres Paar trat winkend auf die Veranda. Als sie die Stufen hinaufgingen, brachen

Weitere Kostenlose Bücher