Der Sommer der Frauen
die Smiths unisono in Tränen aus, schlugen sich die Hand vor den Mund und fielen einander in die Arme.
«Mögen Sie uns nicht?», wollte Charlie wissen.
Eleanor Smith ging vor ihm in die Hocke. «O doch, wir mögen euch. Und zwar sehr, Charlie!» Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden, musterte ihn von oben bis unten, sog den Anblick ihres Enkelkindes förmlich in sich auf, den Anblick dieser lebendigen, atmenden Verbindung zu ihrem verstorbenen Sohn, der in diesem kleinen Jungen so unverhofft weiterlebte. «Du siehst deinem Daddy sehr ähnlich, Charlie. Ich kann es gar nicht erwarten, dir die Bilder von ihm als Siebenjährigem zu zeigen. Warte nur, bis du die siehst!» Sie stand wieder auf, und Steven Smith zog Charlie mit Tränen in den Augen in eine herzliche Umarmung. Kopfschüttelnd sagte er: «Er ist sein Ebenbild. Absolut sein Ebenbild.»
Doch June erkannte John auch in den Gesichtern seiner Eltern. Er hatte Eleanors grüne Augen und ihren hellen Teint geerbt und das ausgeprägte Kinn und die dunklen Haare von Steven. In den Gesichtern der Smiths spiegelte sich eine Vielzahl von Emotionen, während sie Charlie dabei beobachteten, wie er in die Knie ging, um die rote Katze zu streicheln, die ihm um die Beine strich. Ehrfurcht. Staunen. Freude.
«Na, Charlie, hast du Lust auf ein paar frischgebackene Kekse und ein Glas Milch?», fragte Eleanor.
«Ja!», sagte Charlie. «Oh, Moment, wir haben ja was mitgebracht, Kekse von meiner Cousine Kat. Sie ist eine Bäckerin.» Er lief zum Auto, holte die Schachtel, die Kat ihnen mitgegeben hatte, und brachte sie Eleanor, die wieder in Tränen ausbrach. Charlie machte die Schachtel auf und hielt sie seiner Großmutter hin. «Kat sagt immer, man kann nicht gleichzeitig weinen und Kekse essen, also nimm doch einfach einen Keks.»
Das brachte Eleanor zum Lachen. Sie ging wieder in die Hocke und nahm Charlie in den Arm. «Ich bin nicht traurig, Charlie. Ich bin nur so unglaublich glücklich, dass ich dich kennenlernen darf. Dass du da bist, bedeutet mir unendlich viel.»
«Dann kannst du mir was über meinen Dad erzählen?», fragte Charlie und hielt der Katze einen Keks hin. Die schnupperte nur kurz daran und wandte sich ab.
Steven Smith legte Charlie den Arm um die Schultern. «Na komm, wir gehen jetzt hinein und erzählen und schauen uns die Bilder an. Du wirst nicht glauben, wie sehr du deinem Dad ähnlich siehst!»
Als June das Haus betrat, fiel ihr Blick sofort auf das große Porträt über dem Klavier. John, und zwar genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er saß auf der Veranda dieses Hauses, die Füße in einem leuchtend bunten Berg Herbstlaub vergraben. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Charlie folgte ihrem Blick.
«Ist er das? Ist das mein Dad?»
June nahm seine Hand. «Ja. Das ist er.»
«Der sieht ja echt genauso aus wie ich!», rief Charlie.
«Ja, das stimmt», flüsterte June. Ihr fehlten die Worte. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich hier war.
Dann saßen sie zu viert auf dem Sofa, June und Charlie in der Mitte, ein aufgeschlagenes Fotoalbum auf dem Schoß. Eleanor und Steven erklärten ihnen Bild für Bild, John als Baby, als Krabbelkind, mit Dreirad und dann mit Skateboard, bei Schulbällen und auf allen möglichen Booten. June hatte ihn ganze zwei Tage des Lebens gekannt, das in diesem Album vor ihr ausgebreitet lag. Zwei Tage.
Sie dachte an den Verteidiger von Albert Brooks aus
Rendezvous im Jenseits
, der ihm gesagt hatte, er solle die Chancen nutzen, die sich ihm auf Erden boten. June hatte die Chance genutzt, die John Smith für sie bedeutet hatte. Und war mit ihren Erinnerungen und einem wunderbaren Kind belohnt worden.
Während Charlie mit dem Kater Miles spielte, erzählte Eleanor June, dass bei John Leukämie diagnostiziert wurde, als er neunzehn war, anderthalb Jahre, ehe er starb. Er hatte den Wunsch, das Land zu bereisen und möglichst viele außergewöhnliche Dinge zu sehen, David Bowies Ziggy-Stardust-Anzug samt Plateauschuhen in der
Rock and Roll Hall of Fame
in Cleveland und J. D. Salingers Zufluchtsort in New Hampshire. Er war nach New York gefahren, um im Central Park über das Strawberry-Fields-Memorial zu laufen, um Greenwich Village zu sehen und um im Strand Bookstore ein Buch zu kaufen, ganz egal, welches. Er hatte mit seinen Eltern vereinbart, sich jeden Tag telefonisch bei ihnen zu melden, spätestens zum Abendessen, komme, was da wolle. Und er hatte während seiner drei Wochen auf Reisen
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