Der Sommer der Frauen
Mutter gesagt habe, war, dass ich wünschte, sie wäre tot. Ich war damals sechzehn. Wir hatten einen schrecklichen, sehr dummen Streit. Und als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, habe ich erfahren, dass sie wirklich tot war. Sie ist bei einem Autounfall gestorben. Zusammen mit meinem Vater und meinem Onkel.»
Hinter der Tür herrschte Stille.
Wieder holte Isabel tief Luft. «Ich habe es nicht so gemeint, weißt du. Ich habe meine Mutter geliebt, wirklich geliebt, auch wenn mir das manchmal selbst nicht klar war. Ich war sauer auf sie, weil sie gesagt hatte, dass ich an Silvester um halb eins zu Hause sein muss, und weil sie ständig böse mit mir war, nur an mir rumgenörgelt hat und mir andauernd erzählt hat, dass ich eines Tages meine wilde Art bereuen würde. Und weißt du, Alexa, sie hatte recht. Aber leider hatte ich nie mehr die Chance, ihr zu sagen, dass ich es nicht so gemeint habe und dass es mir leidtut.»
Isabel hörte ein paar Bücher zu Boden poltern.
«Sie hat deinen Vater ja auch nicht betrogen», rief Alexa trotzig. «Sie hat deine Familie nicht kaputt gemacht und damit dein ganzes Leben ruiniert!»
«Nein, aber dafür ist sie fort, Süße. Und zwar für immer. Ich werde niemals in der Lage sein, die Dinge wieder geradezubiegen. Und sie auch nicht. Alexa, man weiß nie, was im Leben als Nächstes geschieht. Es passieren ständig und überall Dinge, die weh tun. Aber wenn man nur in seiner Wut verharrt und auf die ganze Welt sauer ist, fühlt man sich mit der Zeit nur immer mieser. Wenn du die Dinge zwischen dir und deiner Mutter wieder geradebiegst, dann verändert sich damit dein ganzes Leben.»
«Aha! Dann soll ich ihr also einfach verzeihen, ja? Na klar! Tolle Idee.»
Gott, Alexa war wirklich ein harter Brocken. «Du kannst versuchen, ihr zu verzeihen. Und du kannst sie lieben, obwohl du stocksauer auf sie bist. Du kannst zulassen, dass sie dich liebhat. Du kannst ihr die Chance geben, die Dinge zwischen euch beiden so weit in Ordnung zu bringen, wie das eben möglich ist. Sie ist deine Mutter, Alexa. Meine Mutter ist gestorben, als ich sechzehn war. Sie ist für immer fort.»
Aus der Alleinekammer drang kein Laut. Dann hörte Isabel, wie etwas Schweres beiseitegeschoben wurde. Sie wartete noch einen Augenblick ab, doch der Türknauf bewegte sich nicht. Langsam öffnete Isabel ihrerseits die Tür. Alexa saß auf dem kleinen Sofa, das seitlich verdreht mitten im Zimmer stand. Wimperntusche und Eyeliner liefen ihr über das Gesicht.
«Ich habe die ganzen schlimmen Sachen auch nicht so gemeint, die ich meiner Mutter an den Kopf geworfen habe», sagte Alexa tränenüberströmt. «Aber ich bin trotzdem noch so schrecklich wütend auf sie.»
Isabel setzte sich neben das Mädchen aufs Sofa. «Meine Mutter ist nicht mehr da. Ich kann nicht mehr mit ihr reden und ihr auch nie mehr sagen, dass ich die Hälfte, ach was, noch nicht mal ein Viertel von dem, was ich gesagt habe, nie so gemeint habe – vor allem den allerletzten Satz. Aber deine Mutter lebt, und zwar nur zwei Ortschaften von hier entfernt. Eine Fünfzehnminutenfahrt weit weg.»
«Aber ich hasse sie! Auch wenn ich sie in Wirklichkeit eigentlich nicht hasse», sagte Alexa und fing wieder an zu schluchzen.
Isabel verstand dieses Kind so gut, verstand Alexa aus allertiefster Seele, und sie wünschte, sie hätte ein Patentrezept für die richtigen Worte in diesem Moment. Doch das brauchte noch Zeit. Und Vertrauen. Und ein wenig mehr Reife.
Und so legte Isabel ihr einfach nur stumm den Arm um die Schultern, zog sie, obwohl Alexa sich stocksteif machte, an sich und hielt sie fest. Sie erzählte ihr von dem Brief, den sie und June im Keller gefunden hatten. Von dem gestorbenen Häschen, von all dem Ungesagten, was zwischen den Zeilen gestanden hatte und davon, wie dieser Brief mit den Worten ihrer Mutter ihnen am Ende nach all diesen Jahren auf unterschiedliche Weise beiden geholfen hatte. Isabel redete und redete, und es ging schneller, als sie gedacht hatte, bis Alexa innerlich schmolz und sich an sie schmiegte.
*****
Es war schon nach neun, als Isabel Alexa sagte, sie wollte nur schnell zu ihrem Vater gehen, um ihm zu erklären, was aus der Verabredung geworden war und dann gleich wieder zu ihr zurückkommen.
«Du musst nicht wiederkommen», sagte Alexa mit erschöpfter, aber bestimmter Stimme. «Geh lieber spazieren. Mit Happy und mit meinem Dad.»
Isabel lächelte sie an. «Ich gehe kurz mit deinem Vater sprechen.»
Unten
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