Der Sommer der Frauen
ihrer Mutter auf ihrer eigenen, und das war der größte Trost überhaupt.
[zur Inhaltsübersicht]
5. June
D as Kinoabendgeschirr war gespült, der Aufenthaltsraum vom letzten Popcornflöckchen befreit und eine kurze Google-Recherche zum Stichwort
Bauchspeicheldrüsenkrebs
hatte June, Isabel und Kat so geschockt, dass sie beschlossen hatten, das Thema für diesen Abend auf sich beruhen zu lassen. June setzte sich auf den Balkon vor Kats Zimmer, sah zum Hafen hinunter, zu den Lichtern der Boote und dem rot-weißen Leuchtturm, der in der Ferne gerade noch zu erkennen war. Pearl hatte recht gehabt: Ein Film konnte einen tatsächlich für ein paar Stunden wunderbar ablenken.
Die Brücken am Fluss
hatte June so sehr berührt, dass sie sich noch stundenlang darüber hätte unterhalten können. Dabei dachte sie in diesem Augenblick gar nicht an Meryl Streep und Clint Eastwood, die in der Küche einer einsamen Farm mitten in Iowa zu italienischer Opernmusik tanzten. Sie dachte an Edward, den falschen Fiesling.
Schon mit dreizehn hatte June nur ein paar Monate gebraucht, um zu merken, dass ihr vermeintlicher Traumtyp, wegen dem sie im
Seventeen
-Magazin unzählige Kreuzchentests gemacht hatte, und den schließlich ihre hübschere, bodenständigere, sexy Schwester bekommen hatte, in Wirklichkeit ein unerträglicher Albtraumtyp war.
Edward sagt
wurde bald zum Satzanfang von allem, was die sechzehnjährige Isabel von sich gab.
Edward sagt, fluchen ist total unreif. Edward sagt, jeder trauert auf seine Weise, und das muss man respektieren.
Letzteres war in Junes Augen das einzig Richtige, was Edward McNeal je von sich gegeben hatte. Er hatte ein Talent, über Trauer zu sprechen wie kein anderer. Edward konnte so viel Trost spenden, einen derart mit Verständnis umhüllen, dass man beinahe vergaß, weshalb man überhaupt ins Zentrum für trauernde Kinder gekommen war. Wenigstens ein paar Minuten lang. Natürlich war June immer klar gewesen, weshalb Isabel sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Das war June schließlich genauso gegangen, ein paar Wochen lang jedenfalls, bis es losging mit
Edward sagt
und Isabel anfing, sich so radikal zu verändern.
«Sie entwickelt sich zum Positiven», sagte Lolly, als June ihrer Staub wischenden, Möbel polierenden Tante durch die ganze Pension hinterherdackelte, völlig verwirrt von dem, was mit ihrer lauten, egozentrischen, Schule schwänzenden, Zigaretten klauenden, Shit rauchenden, nuttigen großen Schwester geschah.
«Aber plötzlich ist sie die Superbrave … so wie ich», hatte June gesagt. «Sie sagt sogar
bitte
und
danke
!»
«Und was soll daran schlimm sein?», fragte Lolly, und der Geruch von Zitronenpolitur kitzelte June in der Nase.
«Sie ist ein totaler Roboter geworden», lautete Junes Fazit. Nicht, dass sie ihre gemeine Schwester wiederhaben wollte, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr die neue Version gefiel. Diese völlig kontrollierte Schwester – kontrolliert von
Edward sagt
.
Erst Jahre später wurde June klar, dass Isabel nicht von Edward kontrolliert wurde, sondern von ihrer Trauer. Und Edward konnte einfach gut mit Trauer.
«Es ist doch besser, sie geht zur Schule, ernährt sich gesund und sagt
bitte
und
danke
als das, was sie früher gemacht hat», hatte Lolly geantwortet. «Sei nicht so streng mit ihr! Lass sie sein, was sie gerade sein muss. Sie tut niemandem weh damit. Vergiss das nicht. Irgendwann wird sie zu sich finden, so wie alle Menschen.»
Dieser Satz hatte lange in June nachgeklungen.
So wie alle Menschen.
Stimmte das? Fanden tatsächlich alle Menschen irgendwann zu sich? Hatte ihre Tante zu sich gefunden, nachdem ihr Mann, ihre Schwester und ihr Schwager gestorben waren und sie so furchtbar still geworden war, nur noch sprach, wenn sie angesprochen wurde? Wenigstens redete Lolly, sobald man sie ansprach. Aber wenn man sich nicht direkt an sie wandte, sie nichts fragte, würde Lolly einen nie zu einem Gespräch ermutigen. Sie wollte nicht wissen, ob man Hausaufgaben aufhatte, ob einen jemand zum Schulball eingeladen hatte oder warum man so traurig war. Einmal hatte June sie angeschrien: «Dir ist es ganz egal, ob ich hier sitze und jeden Moment anfange zu heulen!», und Lolly hatte geantwortet: «Nein, June, das ist mir nicht egal. Aber meine Art ist es, dir den Raum zu geben, es auch zu tun.»
June war sich damals nicht sicher, ob Raum das war, was sie wollte. Nicht, dass es für sie viel Raum gegeben hätte, in ein einziges Zimmer
Weitere Kostenlose Bücher