Der Sommer der Frauen
«Außerdem sieht sie Mom so ähnlich. Findest du nicht, Iz?»
Isabel antwortete nicht. Vielleicht war es falsch, im Augenblick ihre Mutter zu erwähnen. June hatte schon immer vermutet, dass einer der Gründe, warum ihre Schwester die Pension mied – und damit gleichzeitig auch Lolly, Kat und June –, das war, was Isabel ihrer Mutter an jenem letzten Abend an den Kopf geworfen hatte. June wusste, dass Isabel sich das nie verziehen hatte. Dieser Streit hatte hier in der Pension stattgefunden, auf dem Flur im ersten Stock. June war das, was dort jahrelang in der Luft gehangen hatte, nur allzu vertraut. Schmerz. Trauer. Verlust.
Kat lehnte sich müde zurück und starrte zur Decke. «Ich kann es einfach nicht fassen. Das alles.»
Ein paar Augenblicke lang sagte keine ein Wort. Aus dem Garten drangen gedämpfte Geräusche zu ihnen herein, die Grillen und Zikaden, die Stimmen vereinzelter Menschen auf dem Rückweg vom Hafen.
«Gut. Morgen machen wir uns einen Plan, wie wir am besten Lollys Aufgaben verteilen können», sagte Isabel, drehte sich um und steuerte auf das Bett unter der Dachgaube zu. «Die Chemotherapie wird sie womöglich so schwächen, dass sie selbst kaum noch was tun kann.»
June nickte. «Unglaublich, wie gesprächig Lolly nach dem Film plötzlich war. Ich glaube, ich habe sie noch nie so lebhaft erlebt.»
«Mich hat es auch überrascht», sagte Kat. «Ich meine, sie ist ja manchmal ziemlich festgefahren, aber sich einen Film anzusehen und danach darüber zu sprechen, über die verschiedenen Blickwinkel – und was dann dabei herausgekommen ist!», fügte Kat hinzu und sah Isabel mitfühlend an. «Sie hat sich richtig geöffnet. Ich hoffe, das bleibt so.»
«Bestimmt», sagte Isabel. «Meryl Streep ist ihre Lieblingsschauspielerin, und sie kennt ihre Filme in- und auswendig. Ich bin mir sicher, dass sie ihr alle etwas bedeuten – für verschiedene Phasen ihres Lebens stehen. Sie hat den Film nicht umsonst ausgesucht. Jedenfalls hatte ich vorhin das Gefühl, so, wie sie zwischendurch immer wieder zum Fenster hinausgesehen hat.»
«Sie ist kompliziert, oder?», sagte Kat.
June lächelte. «Kompliziert und zäh.» June sah Isabel an. «Glaubst du, du kannst Lollys Aufgaben in der Pension übernehmen? Das wird eine ziemliche Veränderung für dich.»
Isabel starrte sie an. «Was? Wie meinst du das? Weil ich nicht arbeite?»
June wurde knallrot. Genau das hatte sie damit gemeint, aber sie hatte es nicht sagen wollen, hatte nicht gemein sein wollen. Diesmal nicht. «Ich meine damit nur, dass keine von uns Erfahrung darin hat, die Pension zu führen, sich um die Gäste zu kümmern, nicht mal Kat. Erinnert ihr euch noch an diese unerträgliche Familie letztes Jahr zu Weihnachten? Die haben ständig gebimmelt!
Gibt es noch Tee? Haben Sie keine weicheren Handtücher? Lässt sich denn nichts gegen diesen Meeresgeruch unternehmen? So fischig! Wie das hier hochzieht!
Kat lachte. «Die habe ich nur überlebt, weil sie ganz verrückt nach meinem Backwerk waren. Die eine, die sogar noch zum Wandern hohe Absätze trug, meinte, ich sollte unbedingt meinen eigenen Laden aufmachen, sie würde auf alle Fälle im großen Stil bei mir bestellen. Ich konnte die Tanten zwar nicht ausstehen, aber sie haben mir ziemlichen Auftrieb gegeben. Trotzdem, ich hätte ihnen am liebsten ihr Glöckchen weggenommen und es ins Klo geworfen!»
June versuchte, sich Isabel auf allen vieren, mit Ata und Scheuerbürste bewaffnet, vor einer Kloschüssel vorzustellen. Ihre Schwester hatte eine Haushaltshilfe, die nicht nur zwei Mal pro Woche ihr Dreihundert-Quadratmeter-Haus putzte, sondern auch noch ihre Mahlzeiten kochte und, mit Aufwärmanleitung versehen, für sie einfror.
«Ich bin mir sicher, dass ich in der Lage bin, zu tun, was nötig ist», sagte Isabel, und June wusste, dass ihre Schwester sich getroffen fühlte. Isabel hatte wirklich nicht viel Erfahrung darin, Menschen zu umsorgen, weil Edward gerne andere Leute dafür bezahlte, das zu tun. Andererseits wusste June, dass Isabel regelmäßig ehrenamtlich als Trauerbegleiterin arbeitete, und wenn sie die richtigen Worte und die richtige Haltung für eine Frau fand, die nach dreißig Jahren Ehe gerade ihren Mann verloren hatte, dann konnte sie sicher auch mit ein paar ignoranten Urlaubsgästen umgehen.
«Wenn June und Charlie nach Portland zurückmüssen, kannst du sicher das kleine Zimmer haben», sagte Kat zu Isabel. «Oder wir können auch tauschen. Ich glaube, mein
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