Der Sommer der Frauen
Irgendwas, das mir hilft, Kontakt zu ihm aufzunehmen?»
«Nö, tut mir leid. Aber ich kann mich erinnern, dass er in der Haywood Street oder am Haywood Place gewohnt hat. Haywood ist nämlich mein zweiter Vorname, und manche Kumpel nennen mich so. Ich meine, er hätte erzählt, er wäre in irgendwas mit Haywood aufgewachsen. Keine Ahnung, wo genau. Leider.»
Haywood irgendwas. In Bangor. Mehr brauchte sie gar nicht. Das würde sie zu seinen Eltern führen. Und die zu ihm.
Danke, Theodore Theronowki. Danke!
Sobald sie das Gespräch beendet hatte, tippte sie
Haywood, Bangor, Maine
in das Suchfeld von Google Maps, und da war es: Haywood Circle, eine Sackgasse. Natürlich war es gut möglich, dass seine Eltern nicht mehr dort lebten. Doch kaum hatte sie
Smith, Haywood Circle, Bangor, Maine
ins Suchfeld getippt, poppte ein Eintrag auf: Eleanor und Steven Smith, Haywood Circle 22 .
June sprangen die Tränen in die Augen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, schockiert, weil sie ihn nach all der Zeit, nach der ganzen Sucherei, endlich gefunden hatte – fast zumindest. Sie hatte einen Weg zu ihm gefunden.
Und was jetzt? Sollte sie seine Eltern anrufen? Sagen, sie wäre eine alte Freundin von John und würde wahnsinnig gern wieder mit ihm in Kontakt treten? Was, wenn sie ihm ihre Nachricht nicht ausrichteten? Was, wenn sie keinen Kontakt mehr hatten? Was, wenn John verlobt oder verheiratet war und seine Eltern die Adresse nicht an eine alte Freundin rausgeben wollten? An eine alte Exfreundin? Wie viel sollte sie erzählen, um die Kugel ins Rollen zu bringen? Wie wenig?
Hallo, Mrs. Smith. Ich heiße June Nash, und ich habe vor sieben Jahren ihren Sohn John kennengelernt, als er in New York auf der Durchreise war. Wir haben uns aus den Augen verloren, und ich hätte so gerne seine Adresse.
Das klang doch vernünftig.
Sie würde sich mit Isabel und Kat beraten, hören, was sie von dieser Strategie hielten. Zum hundertsten Mal sagte June sich, wie dankbar sie dafür war, dass die beiden da waren, Tag und Nacht bereit für Gespräche über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.
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12. Kat
W ie zerbrechlich ihre Mutter inzwischen wirkte. Anstatt sich von der ersten Runde Chemotherapie zu erholen – in anderthalb Wochen stand bereits die zweite Infusion auf dem Plan –, schien Lollys Körper sich in permanentem Aufruhr zu befinden. Ständig litt sie unter Übelkeit und Abgeschlagenheit, und manchmal war sie, so wie jetzt, dermaßen müde, dass sie kaum den Arm heben konnte. Lolly saß hochgelagert in dem speziellen Klinikbett, das Kat für sie organisiert hatte, und Kat konnte kaum ertragen, mit anzusehen, wie viel Anstrengung es ihre Mutter kostete, die Seiten ihrer Hauswirtschaftszeitschrift umzublättern.
Kat saß auf der Bettkante. Die Spätnachmittagssonne sprenkelte den mit verblichenen Seesternen bestickten gelben Bettüberwurf, der einst Tante Allie gehört hatte. Manchmal blieb Kat beim Anblick der Decke regelrecht die Luft weg. Wegen dem Verlust. Wegen starken Frauen, die gehen mussten, ehe ihre Zeit gekommen war.
Kat erinnerte sich noch gut an ihre wunderschöne Tante. Sie hatte sich immer gewünscht, auch solche Haare zu haben, dichte, kastanienbraune, goldgesträhnte Wellen. Isabel hatte das Gold geerbt, und June das Kastanienbraun. Manchmal, wenn Lolly Kat an einem Wochenende mit Hochbetrieb zu ihrer Tante und ihrem Onkel rüberschickte, damit sie sich um sie kümmerten, hatte Tante Allie sich hingesetzt und Kats lange, blonde Haare gebürstet, die so hell waren, dass sie Kat fast farblos vorkamen. Aber Allie hatte ihr immer gesagt, was für schönes Haar sie hätte, und das hatte Kat stolz gemacht. Ihre Tante war unglaublich nett gewesen, und Kat hatte es geliebt, Zeit bei ihr zu verbringen. Auf dem Weg dorthin hatte Kat immer einen Blick in das Schaufenster der Wahrsagerin gewagt. Sie hieß Madame Esmeralda, und Tante Allie hatte Kat erzählt, dass die Frau, obwohl Allie und Kats Cousinen ihr kein bisschen glaubten, dass sie tatsächlich in die Zukunft sehen konnte, deshalb ein kleines Vermögen mit ihrem Laden verdiente, weil sie in der Lage war, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Tante Allie war der Meinung, den meisten Menschen stünden ihre Wünsche und Sorgen mitten ins Gesicht geschrieben. Eines Tages, an einem ruhigen Winternachmittag, hatte Madame Esmeralda, die zwischendurch als Schneiderin arbeitete, Kat die Zukunft gelesen. Anstatt einer Bezahlung musste
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